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# taz.de -- Europäische Kulturhauptstadt: Die Emanzipation der Provinz
> Das niederländische Leeuwarden ist neben Valletta auf Malta Europäische
> Kulturhauptstadt 2018. Das Spektakel ist ein Kampf gegen Vorbehalte.
Bild: Fast wie ein Ufo zwischen braungeklinkerten Häuserreihen: das Friesische…
Unheimlich langweilig war seine Heimatstadt früher, erzählt Jelle van
Gosliga. „Man schämte sich fast.“ Leeuwarden ist zwar eine niederländische
Provinzhauptstadt mit rund 100.000 Einwohnern, aber wer etwas erleben
wollte, den zog es in andere Teile des Landes. Dann nahmen drei Freunde von
ihm es selbst in die Hand: Sie gründeten eine unabhängige Live-Bühne im
Theatersaal eines früheren Gefängnisses. Jelle van Gosliga ist dort
inzwischen für das Programm verantwortlich: „die Friesen mögen als stur
gelten und wenig reden. Aber dafür sind wir ziemlich tatkräftig.“
Der wuchtige Knastkomplex am Rand der Altstadt ist inzwischen so etwas wie
die Keimzelle des kulturellen Aufstiegs von Leeuwarden. Einige der
ehemaligen Zellen haben Kreative bezogen, in anderen übernachten Touristen.
Und auch das Büro „Leeuwarden-Friesland 2018“ hat hier seinen Sitz. Dort
arbeiten sie am großen Auftritt in diesem Jahr: als Europäische
Kulturhauptstadt.
Leeuwarden und Friesland tragen den Titel gemeinsam mit Maltas Hauptstadt
Valletta. Auf 1,4 Millionen Besucher hoffen die niederländischen
Veranstalter. Im Rest des Landes wird noch spärlich über das Jahr und die
Ideen der Friesen berichtet. Vielleicht weil im kulturellen Zentrum – in
Amsterdam, Den Haag und Rotterdam – viele mit hochgezogenen Augenbrauen auf
das Spektakel im hohen Norden schauen. Nachdem klar war, dass die
Niederländer eine der beiden Kulturhauptstädte 2018 benennen dürfen, hatte
Leeuwarden deutlich bekanntere Mitbewerber wie Den Haag, Eindhoven und
Maastricht aus dem Rennen geworfen. Ausgerechnet das randständige Friesland
soll ins Rampenlicht der kulturellen Öffentlichkeit treten?
Die Friesen selbst sehen dem Hauptstadtjahr mit einer Mischung aus Skepsis
und Neugier entgegen. Jamila Faber zum Beispiel. Sie trägt ihr Haar kurz
und an diesem sonnig-kalten Vormittag einen Mantel wie ein Eisbärenfell.
Jamila Faber ist „schon seit ein paar Jahren 21“ und hat gerade für 24
Monate ein Stipendium als Stadtkünstlerin von Leeuwarden. Sie schrieb in
der Nacht vor dem Valentinstag gemeinsam mit Einwohnern Liebesgedichte mit
Kreide auf die Straßen, zurzeit arbeitet sie an einem Kinderbuch.
Nach dem Studium an der Kunsthochschule wollte sie eigentlich weg, nach
Berlin, Paris oder London. Doch sie blieb. „Die Stadt hat sich positiv
verändert.“ Auch weil viele Menschen selbst tätig werden, Live-Bühnen
bauen, Musikfestivals organisieren, Kulturzentren einrichten. Leeuwarden
ist eine „Do-it-yourself-Stadt“, findet Jamila Faber: Was einem fehlt, das
schaffe man selbst heran. Sie habe sich arrangiert mit dem Künstlerleben in
der Provinz: „Man hat hier einfach mehr Raum. Im wörtlichen wie im
übertragenen Sinne.“
## Vorbild in Sachen Nachhaltigkeit
Leeuwarden und Friesland haben sich viel vorgenommen. Die Gegend soll zum
Vorbild für das ganze Land werden. Vielleicht für ganz Europa. Viele
Programmpunkte beschäftigen sich mit Nachhaltigkeit: In keinem anderen Teil
der Niederlande gibt es pro Einwohner mehr Sonnenkollektoren,
Elektro-Fahrzeuge oder energieneutrale Wohnungen als in Friesland.
Blasmusiker sollen in den Feldern an die verdrängten heimischen Wiesenvögel
erinnern, in einem riesigen Treibhaus thematisieren Theatermacher die
Situation polnischer Erntearbeiter.
Das Motto des Hauptstadtjahrs lautet „iepen mienskip“, Friesisch für
„offene Gemeinschaft“. Regionales Bewusstsein und Weltoffenheit wollen die
Organisatoren hier vereinbaren, Flüchtlinge und Dorfbewohner, Künstler von
internationalem und lokalem Rang zusammenbringen. Die tatsächliche
Offenheit der Friesen wird vom Projekt Kulturhauptstadt allerdings auch auf
die Probe gestellt. In der Provinz wurde die Kritik laut, dass das zu viele
Nichtfriesen das Programm organisieren. Und warum gestalten ausgerechnet
ausländische Künstler die Brunnen, die in elf friesischen Städten als
Erinnerung an 2018 bleiben sollen?
Diese Fragen zu beantworten ist die Aufgabe von Tjeerd van Bekkum. Er ist
seit dem Sommer Direktor der Stiftung, die das Programm organisiert. Er ist
eigentlich Lokalpolitiker, im Kulturbereich war er bis dahin weniger in
Erscheinung getreten. Aber er kennt sich mit Finanzen aus. Und: Er ist
Friese. Sein Vorgänger, ein Belgier, hatte überraschend hingeworfen.
## Weltoffenheit mit Abstrichen
„Die offene Gemeinschaft ist auch für Friesland vielleicht ein Stück weit
eine Herausforderung“, sagt Kris Callens, ein nüchterner Mann mit großen
Plänen. Er ist ebenfalls Belgier und Direktor des Friesischen Museums, das
schon einmal für den großen Besucherandrang übt. Fast wie ein Ufo steht der
gläserne Neubau zwischen braungeklinkerten Häuserreihen. Der neue Standort
hat dem ehemals etwas heruntergekommenen Umfeld in der Innenstadt neuen
Auftrieb gegeben. Derzeit zeugt dort eine Ausstellung von Aufstieg und Fall
der niederländischen Spionin und gebürtigen Leeuwardenerin Mata Hari. Nicht
ohne Stolz erzählt Callens, dass sein Museum es damit schon in die New York
Times geschafft habe. Noch bis April 2018 läuft die Ausstellung. Danach
widmet sich das Museum den optisch täuschenden Werken des Künstlers und
Grafikers M. C. Escher, ebenfalls ein Sohn der Stadt. „Wir haben gezeigt,
dass es sich lohnt, in Kultur zu investieren“, findet Callens.
Die Geschichte, die Leeuwarden seinen Besuchern zu erzählen hat, ist die
einer vorsichtigen Emanzipation. Auch fernab der Metropolen soll Kultur die
Menschen erreichen – und am besten noch an die Region binden. Für das
Musikfestival „Welcome to the Village“ haben 2018 die britischen
Indie-Rocker Franz Ferdinand zugesagt, im Stadttheater von Leeuwarden gibt
das Orchester des berühmten Amsterdamer Concertgebouw ein Neujahrskonzert.
„Es geht hier auch um das Überleben des ländlichen Raums“, sagt Direktor
Tjeerd van Bekkum. „Für die Provinz ist das eine Möglichkeit, für Künstler
attraktiv zu werden.“
Auch der Leeuwardener Bürgermeister Ferd Crone hofft, dass der
Hauptstadttitel den Bewohnern seiner Stadt mehr Selbstbewusstsein
verschafft. Vor allem in den kleineren Städten der Provinz sprechen die
Menschen noch ihre eigene Sprache, das Friesische. „Wir sind nicht
Katalonien, wir wollen uns nicht abspalten“, betont Crone. Aber zu ein paar
mehr Freiheiten würden viele Provinzpolitiker nicht Nein sagen.
Die Konzertbühne, bei der Jelle van Gosliga arbeitet, heißt übrigens
Asteriks – ein Verweis auf eine Vorgänger-Bühne in Leeuwarden, das Römische
Podium. Aber eigentlich passt der Name auch ganz gut zur ganzen Stadt. Denn
wie die Krieger am Rande des besetzten Galliens um ihre Eigenständigkeit
kämpfen, so kämpfen auch die Friesen am Rande der Niederlande für Respekt.
Und ein bisschen Autonomie.
8 Jan 2018
## AUTOREN
Fabian Busch
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