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# taz.de -- Topreiseziel Friesland: Perlen hinterm Deich
> Der niederländische Nordwesten wird dieses Jahr als unbekanntes Juwel
> gefeiert. Zeit für eine Entdeckungsreise über den Deich.
Bild: Über den Deich
Was machen all die toten Möwen hier? Seitlich des Radwegs liegen sie, wie
Exponate, die den Prozess der Verwesung in verschiedenen Stadien
dokumentieren. Oder wie Wegmarkierungen, denn Kilometer um Kilometer frisst
sich der Asphalt durchs Wasser, scheidet Nordsee zur Linken vom Ijsselmeer
rechter Hand. Dazwischen zwei Spuren Autobahn in jede Richtung. Hinter mir,
in Nordholland, hängt grauer Aluminiumhimmel. Vorne löst er sich in
leichtere Töne auf. Soeben habe ich die Provinzgrenze überquert, wie eine
Flagge signalisierte: blau- weiß gestreift, mit roten Teichrosenblättern,
die Unwissende gerne für Herzen halten. Kurz danach die nächste Möwenleiche
am Wegrand. Hallo, Friesland!
Die vorbeipreschenden Autos machen kontemplativ. Ganze 32 Kilometer kacheln
sie in einer nicht enden wollenden Reihe über den Afsluitdijk.Der Deich
verbindet die Metropolen im Westen des Landes mit dem abgelegenen Norden,
über den dieses Jahr viel geredet wird. Ich selbst gleite auf einem
Longboard über den Radweg, umgeben von Salzluft und Abgasen, ruhig durch
das monotone Ambiente und doch mit Eile, denn bei Kilometer 27 wartet
jemand auf mich. Jemand, der hier, fernab jeder Behausung, wohnt. Über dem
Ijsselmeer verläuft der Horizont. Vage Silhouetten erscheinen in der
flimmernden Luftsuppe. Segel. Windräder. Und da, eine Reihe Häuser mit
roten Dächern. Man ist geneigt, sie für eine Fata Morgana zu halten. Doch
Kornwerderzand ist wirklich.
Popke de Vlugt sitzt auf der Veranda vor seinem Haus. Über ihm spannt sich
ein Sonnenschirm, und hinter der niedrigen Hecke mit den Stockrosen
schimmert die Schleuse in Grün und Graublau. Vierzehn Häuser stehen hier,
auf der ehemaligen Arbeitsinsel Kornwerderzand, in denen einst jene
wohnten, die zwischen 1927 und 1932 diesen Deich anlegten. Die Zuiderzee,
ein tief ins Land schneidender Meeresarm mit verheerenden Überschwemmungen,
wurde damit zum Binnengewässer. Heute leben in der Sluisstraat, der
einzigen Straße auf Kornwerderzand, noch 24 Menschen.
## Lob der Backpacker Bibel
Drüben, am Ende der Häuserzeile, schießen Autos und Lkws vorbei. Doch aller
Lärm wird von der Schleuse geschluckt. „Permanente Ferien“ hat man hier,
sagt Popke de Vlugt, der Mitte 60 ist und wie ein freundlicher, in die
Jahre gekommener Seebär wirkt. Vor knapp vier Jahren fuhren er und seine
Frau, von einem Ausflug zurückkommend, über den Deich. Der Nachwuchs war
aus dem Haus, und Popke und Hendrika, Kinder der friesischen Peripherie,
zog es weg aus der Stadt, „zurück ans Wasser“. Als sie die Reihe brauner
Backsteinhäuser sah, entfuhr es seiner Frau: „Hier könnte ich wohnen.“
Monate später hatte sich das Paar auf dem Deich niedergelassen. „Meine
Freunde“, grinst Popke, „hielten mich für gestört.“
In diesem Jahr zieht es deutlich mehr Besucher als gewöhnlich nach
Friesland. Was zum einen daran liegt, dass die Hauptstadt Leeuwarden gerade
European Cultural Capital ist. Und zum anderen an der Liste, die „Lonely
Planet“, die im Mainstream arrivierte Backpacker-Bibel, im Frühling
publizierte. Die nannte Friesland auf Rang 3 ihrer europäischen
Top-10-Ziele, eben wegen des Leeuwarder Festivals, den Inseln im Wattenmeer
und der entspannenden Landschaft. Eine „verborgene Perle“, die es zu
entdecken gilt. Just deswegen bin ich hier. Und Popke de Vlugt kann dabei
behilflich sein.
Von seiner Veranda fällt der Blick auf die Kazematten, eine niederländische
Befestigungsanlage, die den Afsluitdijk einst vor den Deutschen sichern
sollte. 1940 wurde Kornwerderzand zum Stock im vernichtenden Rad des
Blitzkriegs: der einzige Ort, an dem der Vormarsch der Nazis vorübergehend
gestoppt wurde. Heute ist dort ein Museum, zu dem Popke de Vlugt den
Schlüssel hat. Er sitzt als Freiwilliger an der Kasse und lädt trotz
Ruhetag zu einem kleinen Rundgang.
Hinter gepanzerten Türen laufen wir geduckt durch schmale Gänge, vorbei an
Feldbetten und Küche. Draußen im Sand liegt noch immer der Stacheldraht.
Bis vorne zur Straße reicht er, wo Fahrzeuge nichtsahnend vorbeirauschen.
## Der Social Club
Das Kasematten-Museum ist, trotz steigender Besucherzahlen, einer dieser
wenig bekannten Orte in Friesland. Ganz anders sieht das mit der Hauptstadt
aus: an Leeuwarden kommt man in diesem Jubeljahr kaum vorbei. Aber findet
man dort nun noch Orte, die, einem alten „Lonely Planet“-Motto folgend, off
the beaten track sind? Man findet. Am Bahnhof begebe man sich auf die
andere Seite der Gleise. Folge ihnen, immer weiter, bis in ein
Industriegebiet am Van-Harinxma-Kanal, auf dem schwere Frachtschiffe
dahinziehen. Gegenüber, neben einem Autohändler, liegt ein flaches Gebäude
mit der Aufschrift „Social Club Friesland“.
Drinnen tritt man in einen Bar-Raum mit gedämpftem Licht. Ein paar Gäste,
vorwiegend fortgeschrittenen Alters, sitzen an den Tischen. Vor dem
Tresen-Computer geht ein Mitarbeiter des Social Club mit einem Mann seine
Bestellungen durch: Produkte aus medizinischem Cannabis, die hier an
chronisch Kranke ausgegeben werden. Einen Nachmittag in der Woche öffnet
der Club seine Türen. 30 bis 40 Patienten kommen dann, für Medizin, einen
Kaffee, ein Gespräch. Es ist einer von acht solchen Läden, die Rinus
Beintema im ganzen Land betreibt. Hier, in Leeuwarden, begann vor drei
Jahren alles.
Rinus trägt einen langen Bart und hat scharfe blaue Augen hinter seiner
runden Brille. Früher war er ein umtriebiger Graszüchter. Er mietete sich
in Scheunen friesischer Bauern ein – „natürlich mit klarer Ansage, was ich
dort mache. So sind wir hier im Norden!“– und belieferte zahlreiche
Coffeeshops. Inzwischen ist er eine Art Robin Hood des medizinischen
Cannabis und Friesland der Ort, an dem er seine Mission gestartet hat.
„Medizinisches Cannabis ist ein riesiger Wachstumsmarkt mit bizarren
Preisen“, erklärt Rinus seine Motivation, während wir im Hinterraum Platz
nehmen. „Für Medikamente mit niedriger Cannabiskonzentration bezahlt man in
der Apotheke weit über 60 Euro. Wir geben sie zum Selbstkostenpreis für
zehn Euro ab, und wer das nicht zahlen kann, bekommt sie gratis.“
Für sein Engagement bekam der Social Club im Frühjahr eine Auszeichnung von
einem friesischen Rundfunksender. Wie aber funktioniert das? „Dies ist ein
soziales Projekt, bei dem die Stärkeren die Schwächeren stützen. Als
Mitglied im Social Club zahlt man zehn Euro monatlich, oder, wer arm ist,
einen symbolischen Euro im Jahr. Wir haben 10.000 Mitglieder, damit können
wir den Betrieb sichern.“ Was Rinus wütend macht, sind „Scharlatane“, die
Todkranken vermeintliche Wundermittel zu Wucherpreisen anbieten: „Wir haben
bessere Medizin für viel weniger Geld.“
## Eine geometrische Landschaft
Die technische Grundlage dieses Modells erschließt sich hinter weiteren
Türen, die ein erstaunliches Labor beinhalten. Schon als Graszüchter
sammelte Rinus botanische und chemische Kenntnisse und stellte zum Beispiel
Cannabisöl für den rheumakranken Vater eines Freundes her.
Heute hat er eine hochmoderne Einrichtung aus Kolben und Trichtern, Kesseln
und Filtern, in denen er mithilfe von biologischem Kokosöl Cannabisöl
extrahiert und weiterverarbeitet – zu Salben und Destillaten, zum Einnehmen
und Rauchen. Was ihn antreibt? „Bei Begräbnissen wurden schon Spendenboxen
für uns aufgestellt, da kamen dann einfach so 1.200 Euro zusammen. So etwas
macht dich demütig.“
Es ist Zeit, der Stadt den Rücken zu kehren. Friesland wird schließlich für
die Weite seiner Landschaft gerühmt. Der Künstler Henk Rusman erlag ihrem
Zauber vor 38 Jahren, als er sich, aus dem Süden des Landes kommend, mit
seiner Familie hier niederließ. Nicht irgendwo, sondern „am Anfang der
Welt“, wie er das nennt, denn bereits im frühen 16. Jahrhundert wurde
dieses Land eingepoldert.
Het Bildt, so heißt die Gegend. Wer von Leeuwarden aus nach Norden reist,
gelangt kurz vor der Wattenküste in ein winziges Dorf namens Sint
Jacobiparochie. Dort hat Henk, ausgestattet mit einem imposanten Schnäuzer
und dem welligen Haar eines Freigeists, mich aufgegabelt, und nun brettern
wir mit seinem kleinen Transporter über schnurgerade Straßen entlang
schnurgerader Felder und Haine. Es ist eine Landschaft für Leute, die
Geometrie mögen.
Der erste Stopp ist der Seedeich hinter den Feldern. Gelb verdorrt liegt er
in der Nachmittagshitze. Unten sitzen zwei Männer in einer Eiskarre, oben
ein Paar in Liegestühlen, die mit dem Feldstecher zu den Watteninseln
hinüberblicken. Eine Gruppe Kinder streunt durch ihr Blickfeld. Es riecht
nach Schlick, Sonne und Salz. Aus dem vertrocknenden Wattboden schießt
Queller, den man hier Zeekraal nennt und auf immer mehr Biomärkten findet –
doch nirgendwo von einer solchen Frische, die das salzige Aroma in Balance
hält.
## Kunst am Deich
Wir fahren zurück hinter den Deich, wo man derzeit mit eigenen Augen sehen
kann, was diese Landschaft für Henk und einige andere Künstler aus der
Gegend bedeutet. An acht Stellen haben sie geometrische Figuren in die
Felder gesenst, die an die kubischen Kunstwerke von Maurits Cornelis Escher
erinnern, der in Leeuwarden geboren wurde.
Am Wegrand haben Henk und seine Mitstreiter einen Traktor-Anhänger geparkt
und darauf ein vier Meter hohes Plateau errichtet, das fröhlich im Wind
wogt. Von oben fällt der Blick auf ein dreimal gekipptes Sechseck, von Henk
entworfen, das sich grünlich aus dem knallgelben Sommerweizen abhebt.
„Escher im Korn“ nennt die Künstlergruppe ihr Projekt, mit dem sie auch
Eingang ins Leeuwarder Festivalprogramm gefunden haben.
„Ich hatte immer den Eindruck, dass das Getreide mich einlädt, etwas damit
zu machen“, erklärt Henk, als wir in seinem Atelier stehen. Hinter der
Fensterfront entfaltet sich ein Spektakel von Geraden in Gelb, Grau und
Braun, darüber ein wässriges Blau. Umgehend versteht man hier, warum den
Künstler das Getreide nicht loslässt. Henk will demnächst noch einen
Schritt weitergehen: „Mein Plan ist, feste Sockel am Deich zu installieren
und dort internationale Kunstwerke auszustellen.“
9 Sep 2018
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Natur
Nachhaltigkeit
Reiseland Niederlande
Nabu
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