| # taz.de -- Kolumne Nachbarn: Wie das Zuckerrohr in Syrien | |
| > Unsere Autorin war ganz überrascht: An einem Berliner Kanal gibt es eine | |
| > Stelle, wo sie immer Glöckchen hört. Und sich an ihre Heimat erinnert. | |
| Bild: Der Landwehrkanal in Berlin | |
| Du siehst aus, als hättest du heute Morgen dein Gesicht nicht gewaschen. | |
| Die Wolken versperren dir den Blick auf die Sonne. Hier auf der | |
| Admiralbrücke in Berlin-Kreuzberg, genauer gesagt zwischen dem neunzehnten | |
| und dem zwanzigsten Baum nach der Brücke am Landwehrkanal, würde ich gern | |
| die Wolken vor deinem Gesicht vertreiben, damit ich die Hügel meines | |
| Heimatdorfs, in dem ich aufwuchs, sehen kann. | |
| Dort steht in einem Tal auch das Haus meiner Großeltern. Vor dem Haus ragt | |
| eine große alte Pappel empor, an deren Zweigen ein aus Zuckerrohr | |
| gefertigtes Windspiel mit Rohren unterschiedlicher Größen hängt. Bei dem | |
| kleinsten Windhauch erklingt so etwas wie das Konzert eines ganz besonderen | |
| Orchesters. Die vielen Klänge genügten, um die Vögel von den Trauben an den | |
| Weinstöcken zu verscheuchen. Aus den Trauben stellte mein Großvater seine | |
| Vorräte an Arak und Wein her. | |
| Hier in der Nähe der Berliner Admiralbrücke höre ich stets Glöckchen, die | |
| meine Erinnerungen hervorrufen. Beim ersten Mal dachte ich, ich bildete es | |
| mir bloß ein. Doch nach mehreren Malen hörte ich Unterschiede, die auch mit | |
| der Windgeschwindigkeit zu tun haben, und blieb lange stehen, um | |
| herauszufinden, woher die Klänge kamen. Ich dachte, womöglich hatten zwei | |
| Liebende Glöckchen an die beiden Bäume gehängt – als Erinnerung, um sich | |
| eines Tages wieder dort zu treffen. | |
| ## Auf der Spur | |
| Doch an den beiden Bäumen sah ich keine Glocken. Dennoch gab ich nicht auf | |
| und suchte weiter nach der Quelle. Auf der anderen Straßenseite erblickte | |
| ich auf dem Balkon eines mehrstöckigen Wohnhauses ein paar leere | |
| Blumentöpfe, wie das im Winter üblich ist, und ein zerfetztes Transparent, | |
| auf dem etwas geschrieben stand, das ich weder lesen noch verstehen konnte. | |
| Zunächst dachte ich, ich sei der Quelle auf die Spur gekommen. Womöglich | |
| hatte eine verliebte Frau ihrem Geliebten nichts als die Adresse der Brücke | |
| gegeben und ihm dann gesagt: Folge den Glocken; dort wirst du mich finden! | |
| Aber diese Erklärung erschien mir dann doch nicht plausibel, denn bei | |
| Windstille würde der Geliebte nichts hören und den Weg zu seiner Geliebten | |
| nicht finden. | |
| Also prüfte ich jeden Balkon und jedes Fenster und stellte fest, dass | |
| nirgends Glocken zu sehen waren. Doch halt: Da oben, ganz oben, waren zwei | |
| kleine Fenster. Dort hingen verschiedene Glöckchen, die dem Windspiel | |
| meines Großvaters ähnelten. Bloß die Melodien waren anders. Vielleicht sind | |
| diese Glocken aus Stahl. Ich bin mir sicher, dass die Person, die die | |
| Glocken aufhängte, nicht gedacht hätte, dass sie jemand zum Anlass nehmen | |
| könnte, um diese Zeilen zu schreiben. | |
| Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman | |
| 18 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Kefah Ali Deeb | |
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