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# taz.de -- Kolumne Nachbarn: Das Mädchen mit den braunen Augen
> Plötzlich ist im Fernsehen das Kind, das ich einst in der Straße des
> Todes traf. Tausende Kilometer bin ich geflohen, doch vergessen kann ich
> nicht.
Bild: Zwischen den Trümmern: ein Mädchen in Ghouta, einem Stadtteil von Damas…
An der Einfahrt zur langen Straße – bei den Bewohnern als „Straße des
Todes“ bekannt – stand ein Kontrollposten. Heute gibt es weder den
Kontrollposten noch die Straße. Der Tod raffte neunzig Prozent der Bewohner
hinweg, die während der Belagerung dort ausgeharrt hatten. Die Bomben
zerstörten Häuser und Straßen. Vor mehr als fünf Jahren war ich mit zwei
Freunden in der besagten Straße, um den Belagerten Hilfsgüter zu bringen.
In Windeseile mussten wir durch die ganze Straße huschen und die Kreuzung
überqueren, um nicht von der Kugel des Scharfschützen mit dem gemeinen Auge
getroffen und womöglich getötet zu werden.
Nun sah ich im Fernsehen, wie ein paar Menschen ruhig und friedlich über
dieselbe Straßenkreuzung gingen. Vielleicht ist der Scharfschütze nicht
mehr dort postiert oder schon tot. Der Anblick rief in mir Erinnerungen an
Filme über den Zweiten Weltkrieg hervor.
Während ich den Bericht anschaute, erschien im Bild ein Mädchen, das mich
mit scharfem Blick anstarrte. Ich bekam Gänsehaut; ich stand auf und sprang
zum Fernseher. Ich bin mir sicher, dass es sich um das Mädchen handelte,
das meine beiden Freunde und ich vor fünf Jahren trafen in der
Parallelstraße der Straße des Todes. Das Mädchen durfte damals vier Jahre
alt gewesen sein. Seine Augen waren braun oder honigfarben, wie man es im
Arabischen nennt. Erstaunlicherweise hat es noch den gleichen Blick und die
gleiche Gestik. Schon damals flogen seine Haare in alle Richtungen, während
es barfuß auf den Trümmern sprang. Das alles kann ich nicht vergessen.
## Verfolgt von Tod und Traurigkeit
Vergeblich versuchte ich, mich dem Mädchen zu nähern. Es rannte weg, blieb
dann stehen, drehte sich um und warf uns einen ängstlichen, doch zornigen
Blick zu. Ich gab ihm mit der Hand ein Zeichen, es sollte stehenbleiben.
Doch es beachtete mich nicht und rannte fort.
Es ist also das Mädchen, das ich einst in der Straße des Todes sah. Ich
erkenne es wieder! Wie viele Verbrechen haben deine schönen, braunen Augen
sehen müssen, dass du mich heute so traurig und erschöpft anschaust? Was
ist aus den Kindern geworden, mit denen du damals in den Trümmern gerannt
bist? Diese Traurigkeit, diese Angst, die bösen Dinge und der Tod verfolgen
euch noch immer! Hast du dich die ganze Zeit in der Parallelstraße vor dem
Tod versteckt? Ich bin Tausende von Kilometern vor deinen Blicken und den
Blicken Hunderter Kinder geflohen, weil ich unfähig war, etwas für euch zu
tun. Eure Blicke verfolgen mich heute in meinem Exil. In deinen Augen sehe
ich alle Kinder und mein klägliches Versagen. Welch ein Trost für mich! Die
Weltgemeinschaft (der zivilisierten Welt) schaut seit über sechs Jahren
tatenlos eurem Schicksal zu. Man schläft dennoch gut und das schlechte
Gewissen quält niemanden.
Aus dem Arabischen von Mustafa Al-Slaiman
17 Oct 2017
## AUTOREN
Kefah Ali Deeb
## TAGS
Nachbarn
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