# taz.de -- Viele Inobhutnahmen in Hamburg: Behörde soll Jugendamtsfälle sich… | |
> Die Hamburger Linke fordert die Überprüfung aller Fälle, bei denen Kinder | |
> alleinerziehender Mütter in Heimen untergebracht sind. | |
Bild: Darf, anders als andere, seine Eltern sehen: Kind | |
HAMBURG taz | Der Fall von Linos* und Helene* beschäftigt in Hamburg die | |
Politik. „Ich darf meine Mama nicht mehr sehen, warum ist das so?“, hatte | |
der Junge im Juni unter Tränen seine Anwältin gefragt. Zwei Jahre lebt der | |
heute 13-Jährige gegen seien Willen im Heim und darf keinen Kontakt zu | |
seiner Mutter Helene haben, die ihn, bis er zehn war, allein großzog. „Das | |
Schicksal dieses Jungen ist kein Einzelfall“, sagt Sabine Boeddinghaus von | |
der Hamburger Linksfraktion. „Der Fall steht exemplarisch für viele Kinder | |
und Jugendliche, die aus Familien genommen werden, ohne dass ihr Wille | |
berücksichtigt wird.“ | |
Die Familienpolitikerin fordert nun ein „Moratorium“, sprich eine | |
Aussetzung und Neubewertung, für Entscheidungen der Hamburger Jugendämter. | |
Konkret soll Hamburgs Sozialbehörde all jene Fälle überprüfen, bei denen | |
Kinder alleinerziehender Mütter fremd untergebracht sind, etwa darauf, ob | |
es Kontaktsperren gibt oder der Kindeswille ignoriert wird. Denn es gibt | |
Hinweise, dass diese Gruppe durch Jugendämter diskriminiert wird. Die Stadt | |
hat, angeblich wegen Immobilienknappheit, rund 1.500 Kinder im Alter von | |
null bis 18 Jahren in anderen Bundesländern untergebracht. Bei jedem | |
Fünften ist der Eltern-Kontakt eingeschränkt. | |
Dass das Schicksal von Mutter und Sohn kein Einzelfall ist, sagte auch der | |
frühere Jugendhilfe-Abteilungsleiter Wolfgang Hammer im taz-Interview. Ihm | |
seien aus jüngerer Zeit 14 Fälle bekannt, bei denen Kinder in Heime kamen, | |
ohne dass es eine „substantielle Kindeswohlgefährdung“ gab. Betroffen seien | |
alleinerziehende Mütter. Die Begründungen der Jugendamtsmitarbeiter wie „zu | |
große Nähe zum Kind“ entsprächen eher der Haltung: „Ich bin jetzt der | |
Ober-Erzieher und beurteile, wie gut die Erziehung in Familien ist.“ Doch | |
gewisse Unzulänglichkeiten gebe es in jeder Familie. Selbst wenn diese oft | |
auf Laien-Theorien basierenden Diagnosen stimmen würden, wären sie „kein | |
Grund, ein Kind aus der Familie zu nehmen“. | |
Auch der Kriminologe Birger Antholz führt in dem Aufsatz | |
„Kindesinobhutnahmen 1995–2015“, publiziert in der Zeitschrift | |
Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ZKJ), auf, dass häufig Alleinerziehenden | |
ein Kind weggenommen wird. 2014 bei 48 Prozent der neuen | |
Fremdunterbringungen, obwohl nur 20 Prozent alleinerziehend sind. | |
„Eltern-Opfer sind häufig zurückhaltende alleinerziehende Mütter, die | |
verteidigungsschwach sind“, schreibt Antholz. Einige Mütter reagierten auf | |
den Schock mit einer Erkrankung, die dann „endgültig die Kindeswegnahme | |
rechtfertigen“. | |
Familienanwalt Rudolf von Bracken erklärt das Jugendamtsvorgehen bei | |
streitenden Eltern so: „Der Elternteil, der kooperiert, der kriegt beim | |
Jugendamt den Vorrang. Das ist oft der Vater, während die Mutter um das | |
Kind kämpft.“ Häufig kämen Informationen ans Jugendamt von Dritten, die den | |
Betroffenen nicht offengelegt werden. „Sie haben keine Gelegenheit, sich zu | |
verteidigen“, so der Anwalt, der Helene vertritt. | |
Ein Anlass sei Mobbing in der Schule. „Traut sich ein Kind nicht mehr hin, | |
meldet die Schule das als Absentismus ans Jugendamt.“ Die Kinder würden | |
dann aus Familien genommen, weil dies als Kindeswohlgefährdung gilt. „In | |
dem Kinderschutzhäusern kommt das Kind dann in eine schwierige Situation | |
unter Gleichaltrigen.“ Auch dort kann es Mobbing geben. | |
Eine Überprüfung ganzer Fallgruppen durch die Behörde gab es schon. Zum | |
Beispiel wurden 2012, nachdem ein elfjähriges Pflegekind durch eine | |
Methadontablette starb, die Akten der rund 1.400 Pflegeeltern durchflöht. | |
Auch von den auswärts lebenden Heimkindern weiß die Fachbehörde fast | |
nichts, wie Boeddinghaus durch eine Parlamentsanfrage erfuhr: „Auswärtige | |
Heime sind eine Black Box.“ | |
Doch Anlass zur geforderten Aktenkontrolle sieht SPD-Sozialsenatorin | |
Melanie Leonhard nicht. Im Rahmen der Fachaufsicht gehe man jedem „Hinweis | |
zu Missständen im Einzelfall nach“, sagt ihr Sprecher Marcel Schweitzer. | |
„Dies haben wir auch in diesem Fall umgehend veranlasst.“ Immerhin, doch | |
darüber hinaus habe die Behörde keine Hinweise, die so eine Überprüfung | |
notwendig machten. Und Gerichts-Entscheidungen zu Besuchskontakten, so | |
Schweitzer, fielen nicht in ihre Zuständigkeit. | |
Gleichwohl hat aber Linos Jugendamt, das Leonhards Fachaufsicht untersteht, | |
die Kontaktsperre in die Wege geleitet. Man müsse dem Kind so ein | |
„Ankommen“ im Heim ermöglichen. Von Bracken hält Kontaktsperren mit diesem | |
Argument für verfassungswidrig. „Selbst ein Häftling hat mehr Rechte als | |
die Kinder.“ | |
Sorgen, dass in der Jugendhilfe etwas gründlich schiefläuft, hat auch | |
Marcus Weinberg. Er ist familienpolitischer Sprecher der CDU im Bundestag. | |
Auf seinem Schreibtisch stapeln sich an die 300 Zuschriften von Eltern, die | |
sich von Jugendämtern alleingelassen und schikaniert fühlen. „Es gibt | |
staatliche Entscheidungen, die mich zweifeln lassen, ob sie wirklich den | |
betroffenen Kindern, ihren Eltern oder Pflegeeltern dienen“, sagt er. | |
Auch sei schlimm für die Eltern, dass sie nicht mehr an Informationen über | |
ihre Kinder kommen. Weinberg will eine Kommission bilden, an die sich | |
Eltern wenden können. Die müsste aber „wirklich unabhängig sein“. | |
17 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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