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# taz.de -- Debatte Politischer Extremismus: Wenn Dämme brechen
> Politische Prognosen sind oft unzuverlässig, vor allem bei der Vorhersage
> von Extremereignissen. Ein Blick aus der Katastrophenforschung.
Bild: Keine Naturkatastrophe: Kann die Gesellschaft sich auch auf ein politisch…
Wie real sind die Gefahren des politischen Extremismus für den Fortbestand
des demokratischen Rechtsstaats? Naheliegender Anlass für diese Frage ist
der Aufstieg rechtspopulistischer, nationalistischer und zumindest in
Teilen antidemokratischer Parteien in Europa, mitunter schon in
Regierungsverantwortung. Im Parlament des größten EU-Landes ist eine rechte
Partei vertreten – und zwar [1][als drittstärkste Kraft].
Drängend ist die Frage auch angesichts des [2][bevorstehenden Abgangs der
letzten Zeitzeugen des Holocaust] – jener zivilisatorischen Katastrophe,
die noch immer zentraler Referenzrahmen der politischen Identität in
Deutschland ist. Dieser Verlust von authentischer Zeugenschaft schmerzt
besonders in Zeiten, in denen Stimmen laut werden, die in der
Erinnerungskultur [3][„eine Wende um 180 Grad“ fordern]. Zuschüsse für
Schulfahrten zu KZ-Gedenkstätten, um nur ein Beispiel zu nennen, sollen
gestrichen werden.
Die Angriffe auf die Grundfesten unseres historischen Selbstverständnisses
machen fassungslos. Zugleich versucht man sich zu vergewissern, dass diese
Meinungen niemals mehrheitsfähig werden. Man hört sich selbst zuflüstern,
es handle sich um eine jener Phasen, die die europäische Politik immer
wieder durchmacht, die aber vorbeigehen, ohne unseren liberalen
Gesellschaften ernsthaft zu Leibe zu rücken. Auch das jüngste Urteil des
Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren gibt zu verstehen, dass
unser Staatssystem auf recht festem Grund steht und sich nicht von einem
versprengten Haufen Verfassungsfeinde aus den Angeln heben lassen wird.
Der Haken ist nur, dass politische Prognosen dazu tendieren, sehr
unzuverlässig zu sein. Besonders problematisch wird es bei der Vorhersage
seltener Extremereignisse. Warum dies so ist, beschäftigt die
Katastrophenforschung. Im Zentrum stehen hierbei meist Naturgefahren und
technische Desaster. Politische Katastrophen werden hingegen kaum
berücksichtigt. Dabei liefert diese Forschung beunruhigende Hinweise auf
unseren Umgang mit den Gefahren der politischen Polarisierung,
Radikalisierung und Dehumanisierung. Drei Punkte erscheinen besonders
wichtig.
Der erste Punkt betrifft die Erinnerung an vergangene Katastrophen. Diese
verblassen erstaunlich schnell. Sobald der Fluss einige Zeit nicht mehr
über die Ufer getreten ist, beginnt man wieder näher am Ufer zu bauen. Eine
besondere Herausforderung in Einwanderungsgesellschaften ist hierbei,
lokale Gefahren und Risiken Neuzugezogenen zu vermitteln.
## Katastrophen sind nie unausweichlich
Zweitens werden überraschende Ereignisse häufig als Sonderfall abgetan und
die eigenen Grundannahmen nicht überprüft. Mithilfe von Ad-hoc-Erklärungen,
beispielsweise menschlichem Versagen, werden die etablierten
Prognosemodelle geschützt. So zeigen Studien, dass Unfälle in
Kernkraftwerken deutlich häufiger auftreten, als die gängigen Modelle dies
vorhersagen. Auch bei diesem Aspekt fällt es nicht schwer, Parallelen zum
Umgang mit der NS-Diktatur zu erkennen. Die Mär vom anständigen deutschen
Volk, das von wenigen Scharlatanen verführt wurde, hält sich trotz
zahlloser gegenteiliger Beweise hartnäckig.
Eine dritte Erkenntnis ist, dass die wahrgenommene Stabilität der
bestehenden Verhältnisse leicht zu einer Vernachlässigung der Vorkehrungen
für den Ernstfall führt. Wichtige Schutzmechanismen gelten schnell als
ineffizient und unnötig. Dieses in der Forschung als Verwundbarkeitsparadox
bekannte Phänomen tritt umso stärker auf, je sicherer wir uns fühlen.
Beispielsweise sind viele Haushalte in Ländern mit instabiler
Stromversorgung deutlich besser auf einen Blackout vorbereitet als jene in
hochentwickelten Staaten. Übertragen auf politische Risiken stellt sich die
Frage, ob wir uns auch hier nicht ein Stück zu sicher fühlen und so die
Vorsorge vernachlässigen. Was bedeutet das für den Umgang mit dem
Rechtsextremismus?
Zivilisatorische Katastrophen sind immer und überall möglich. Entscheidend
ist: Katastrophen sind nie unausweichlich. Wie auch im Umgang mit
Naturgefahren sind allerdings permanente Anstrengungen notwendig, um sich
gegen schleichende Erosionen zu verteidigen. Vorhandene Dämme müssen
erneuert, neue Schutzmechanismen errichtet werden.
## Vorsorge muss in sicheren Zeiten getroffen werden
Der wichtigste Schutzwall zur Vorbeugung politischer Risiken ist die
wehrhafte Demokratie. Sie stützt sich auf den Rechtsstaat, der denjenigen,
die die demokratischen Werte verhöhnen und negieren, Grenzen aufzeigt.
Zudem ist die Zivilgesellschaft gefordert. Denn die historische Erfahrung
zeigt, dass selbst der stärkste Staat allein keinen vollumfänglichen Schutz
gewährleisten kann.
Terroristische Angriffe können trotz hochgerüsteter Polizei und
Nachrichtendienste nicht vollständig verhindert werden. Welchen
langfristigen Schaden solche Attacken haben, hängt jedoch entscheidend
davon ab, wie widerstandsfähig, aber auch wie anpassungsfähig die
Gesellschaft im Umgang mit neuen Herausforderungen ist. Die
Katastrophenforschung spricht hier von systemischer Resilienz. Diese
speist sich aus den Fähigkeiten und Ressourcen aller gesellschaftlichen
Akteure.
Empirische Untersuchungen zeigen, dass ein hohes Maß an gesellschaftlichem
Engagement sowie gegenseitigem Vertrauen notwendige Voraussetzungen für
eine effektive Risikovorsorge sind. Wichtig ist nicht zuletzt eine
Selbstwirksamkeitserwartung aufseiten der Bürger, das heißt, dass jeder das
Gefühl hat, dass es auf ihn ankommt.
Egal ob im Umgang mit Naturgefahren oder politischen Risiken, entscheidend
ist, dass Vorsorge in (vermeintlich) sicheren Zeiten getroffen wird. Die
Worte des Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer dienen hier als Warnung:
„Geschichte wiederholt sich zwar nicht, was aber einer Minderheit geschah,
kann in anderen Formen und Zeiten anderen Minderheiten widerfahren. Steht
für die Werte unserer Demokratie ein und verteidigt sie – und zwar
rechtzeitig.“ Kommt es erst einmal zur Katastrophe, ist es dafür zu spät.
7 Dec 2017
## LINKS
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[3] /Bjoern-Hoeckes-Dresden-Rede/!5372797
## AUTOREN
Florian Roth
Harald Roth
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