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# taz.de -- Ganztagsbetreuung in Europa: Sozialistisch oder liberal – egal
> In Deutschland wird über ein Recht auf Ganztagsbetreuung für Schulkinder
> diskutiert. In zwei Nachbarländern ist sie seit Jahren Realität.
Bild: Kinder ganztags in die Schule schicken? Das ist neben der praktischen imm…
Paris/Warschau taz | Bei den Sondierungen zu einer möglichen
Jamaika-Koalition sprechen sich sowohl Grüne als auch Union und FDP [1][für
ein Recht auf ganztägige Betreuung von Grundschulkindern] aus.
Grundsätzlich. Sollte es umgesetzt werden, wäre das ein Paradigmenwechsel
in Deutschland. In den Nachbarländern Polen und Frankreich ist die
Ganztagsbetreuung längst Normalität – trotz ganz unterschiedlicher
politischer Hintergründe.
In Polen will man zurück zum sozialistischen Modell
Polens Schulsystem entwickelte sich nach der Reform im Jahre 1999 zu einem
der besten Europas. Das liegt vor allem daran, dass den einzelnen Schulen
ein großer Spielraum gelassen wurde, um neben dem verbindlichen Lehrstoff
weitere Angebote zu entwickeln. Da wichtige Prüfungen zentral organisiert
sind, können die Leistungen der Schüler und Schülerinnen in ganz Polen
miteinander verglichen werden. Im Ranking „Welche Schule bereitet die
Kinder am besten auf die Prüfungen vor?“ konkurrieren die Schulen
miteinander. So bieten die meisten der inzwischen wieder achtjährigen
Grundschulen Hausaufgabenbetreuung an, zusätzliches Sporttraining und Kurse
zur Vorbereitung auf prestigeträchtige Lern-Olympiaden. Das sorgt auch
dafür, dass die meisten Schulen Polens heute Ganztagsschulen sind.
Andererseits muss kein Kind den ganzen Tag in der Schule verbringen, wenn
es das nicht will oder die Eltern gemeinsame Ausflüge oder Unternehmungen
planen.
Die meisten Schulen Polens bemühen sich inzwischen, das zentral vorgegebene
Auswendiglernen eines großen Stoffpensums durch freiwillige Kunst-,
Theater- und Musik-Workshops zu ergänzen. Zudem nehmen die meisten Kinder
mit großer Begeisterung an Projektwochen, Festivals, Turnieren und
Ausflügen teil, die die Schulen zusätzlich organisieren. Denn für
Kreativität und eigenständiges Denken oder Problemlösen ist auf dem zentral
vorgegebenen Stundenplan kaum Platz.
Obwohl die Schulreform von 1999, die ein dreigliedriges Schulsystem schuf –
mit sechsjähriger Grundschule, dreijähriger Mittelschule und dreijähriger
Ober- oder Berufsschule – sich in den letzten Jahren gut bewährt hat, was
auch zahlreiche internationale Leistungsvergleiche zeigen, behauptet die
derzeitige Regierung Polens das Gegenteil. Sie machte die Reform von 1999
rückgängig. In Zukunft soll es in Polen wieder ein zweigliedriges
Schulsystem geben mit einer achtjährigen Grundschule und einer
darauffolgenden vierjährigen Oberschule, die zum Abitur führt, oder einer
dreijährigen Berufsschule mit Berufsabschluss.
Welche Auswirkungen die Rückkehr zum sozialistischen Schulmodell Polens
haben wird, ist noch nicht vorherzusagen. Zu einem starken Leistungsabfall
der Schüler und Schülerinnen wird es wohl nicht kommen, da das
Zusatzangebot an den Nachmittagen bestehen bleibt. Es sind eher die
ideologischen Vorgaben, die vielen Eltern Sorgen bereiten: Ihre Sprösslinge
sollen zu aufrechten Patrioten ohne selbstkritische Reflexion erzogen
werden. Lernziel im Geschichtsunterricht soll der Stolz auf große Polen und
die großartige polnische Nationalgeschichte sein.
***
Frankreich
Wenn derzeit auch in Frankreich wieder einmal über den Schulalltag
diskutiert wird, geht es um alles Mögliche, gegenwärtig vor allem um die
Frage, ob der Mittwoch oder der Samstag schulfrei sein soll. Kaum je
infrage gestellt wird aber die Ganztagesschule. Diese ist in Frankreich
längst der Normalfall und wird kaum noch bestritten. Die wenigsten Kinder
kehren mittags heim, die meisten essen in der Schulkantine.
Das wird vom Staat zur Sozialisierung der Schulkinder auch finanziell
unterstützt, indem den einkommensschwachen Familien ein Preisnachlass
gewährt wird. Das ist umso wichtiger, als für manche Kinder und Jugendliche
in gewissen Quartieren das Mittagessen im Schulrestaurant die einzige
einigermaßen ausgewogene und warme Mahlzeit darstellt. Wie in allen
Sozialbelangen ist der Staat auch dafür zuständig.
Der Schultag dauert lange in Frankreich, er ist in Wirklichkeit mehr der
Berufstätigkeit der Eltern angepasst als den Bedürfnissen der Schüler und
Schülerinnen. Mit der Ganztagesschule soll in Frankreich nicht nur die
berufliche Integration der Frauen gefördert, sondern seit Jahrzehnten schon
auch die Geburtenrate erhöht werden. Es soll für Eltern möglichst leicht
und erschwinglich sein, Kinder zu bekommen.
Der Staat sorgt sich um sie ab dem jüngsten Alter mit vergleichsweise
zahlreichen und guten Krippen und der Ecole maternelle (Vorschule) ab drei
Jahren. Die Größeren können auch nach dem offiziellen Ende des Unterrichts
bleiben und kommen in den Genuss von Aktivitäten oder Stützkursen am
schulfreien Nachmittag. Ein großer Spielraum für Variationen besteht auf
lokaler Ebene nicht.
15 Nov 2017
## LINKS
[1] /Sondierer-beraten-zu-Ganztagsbetreuung/!5459591
## AUTOREN
Gabriele Lesser
Rudolf Balmer
## TAGS
Ganztagsbetreuung
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