| # taz.de -- Ex-Prostituierte über Sex: „Männern geht es sexuell so schlecht… | |
| > Ilan Stephani hat zwei Jahre lang in einem Berliner Bordell gearbeitet. | |
| > Ihre Erfahrungen beschreibt sie in einem neuen Buch. | |
| Bild: Ilan Stephani: „Wenn wir den Mädchen das Nein beibringen würden, bevo… | |
| taz: Frau Stephani, mit Freuden sind Sie zu der Prostituiertenorganisation | |
| Hydra spaziert, um sich beraten zu lassen: Sie wollten Prostituierte | |
| werden. Was haben Sie sich von dem Beruf erhofft? | |
| Ilan Stephani: Ich wollte keine langweilige Studentin werden. Ich wollte | |
| intensiven Kontakt. Und ich hatte keine guten Erfahrungen gemacht: Mein | |
| erster Freund ging mit einer Selbstverständlichkeit fremd, dass ich gleich | |
| die Machtfrage im Sex zu spüren bekam. Ich wollte nun soziale und sexuelle | |
| Souveränität gewinnen. Und habe eben auch als Tochter aus gutem Hause | |
| gelernt, mit unterschiedlichen Menschen flüssig mitzugehen. Das waren | |
| Qualitäten, die ich in der Prostitution plötzlich honoriert bekam. Das hat | |
| mich total geflasht. | |
| Ist das Lebenshunger? | |
| Ja. Und das ist auch das Ding am Grunde des Ozeans für alle Männer, die in | |
| den Puff gehen: Ich bin hungrig danach, mich lebendig zu fühlen. Und dann | |
| denken sie, dafür braucht ein Mann Sex, das ist natürlich Bullshit. Ein | |
| Mann hat einfach nur gelernt, dass er das jetzt so erleben soll. Aber ein | |
| Kontakt mit einem lächelnden Menschen, das macht uns lebendig. | |
| Obwohl es ein bezahltes und gespieltes Lächeln ist? | |
| Ja, das können Menschen ganz gut ausschalten. | |
| Und dass sie mit Männern Sex haben, auf die Sie gar keine Lust haben, hat | |
| Sie das gar nicht zögern lassen? | |
| Doch. Aber man hat so oft auch in seiner Liebesbeziehung Sex, ohne dass man | |
| den anderen jetzt gerade wirklich so liebt oder haben will. Da geht es dann | |
| eher um ein Gefühl der Verpflichtung. Der Unterschied zur Prostitution ist | |
| kleiner, als Sie denken. Ich arbeite seit sieben Jahren als | |
| Körpertherapeutin mit Frauen, und quasi alle haben kostenlos gemacht, was | |
| ich bezahlt gemacht habe. Und ich hatte schon mit anonymem Sex | |
| experimentiert. Ich war im Swingerklub und hatte diese Normalität und | |
| Offenheit schon kennengelernt. Und mich begeisterte eben die soziale | |
| Herausforderung. | |
| Worin bestand die? | |
| All diese Kunststückchen: Man lässt zum Beispiel das Geld ganz unauffällig | |
| verschwinden, sodass am besten keiner von uns merkt, dass das ein | |
| Zahlungsvorgang war. Ich spiele, dass ich genau jetzt stöhnen muss und ganz | |
| begeistert bin, und achte gleichzeitig darauf, dass das Handtuch unter mir | |
| nicht wegrutscht. Und zufällig geht nach genau einer halben Stunde unsere | |
| wunderbare Begegnung einem natürlichen Ende entgegen – und die Menschen | |
| haben mir vielleicht noch einige Geheimnisse anvertraut. Sie reden ja mit | |
| Prostituierten immer so, als hätten wir eine Schweigepflichterklärung | |
| unterschrieben. Ich hatte das alles in der Hand. Und die Welt wartet ja | |
| ansonsten nicht gerade auf kleine Studentinnen. Aber diese Männer warteten | |
| auf mich. | |
| Sie waren in einem kleinen, von Frauen geführten Puff, mit exzellenten | |
| Arbeitsbedingungen. Aber dennoch: Sie erzählten den Jungs, dass sie eine | |
| Frau toll befriedigen können, obwohl viele genau das nicht können. Wenn ich | |
| es mal streng ausdrücke, waren Sie eine Stütze der phallischen Kultur. | |
| Ja. Prostitution stabilisiert diese Kultur. Aber als konkrete Prostituierte | |
| mache ich diese patriarchale Erhöhung der Erektion gar nicht mit. Männer | |
| scheitern ja in der phallischen Kultur, das ist ja ihr Stress. Sie sollen | |
| einen ehernen Phallus haben, und dann haben sie doch nur einen schlaffen | |
| Penis. Was meinen Sie, wie nervös sie oft sind, wenn sie meinen, jetzt | |
| müssten sie es bringen. Ich höre da heraus: „Erlöse mich von dem Albdruck, | |
| einem Phallus genügen zu müssen.“ Und ich sage dann: „Egal, ob du gerade | |
| einen Ständer hast oder nicht. Es ist gar nicht wichtig. Du bist richtig.“ | |
| Aber natürlich haben Sie am Ende recht: Frauen haben im Patriarchat schon | |
| immer die Männer bestätigt und ihnen die Eier geschaukelt. | |
| Das hat Sie nicht gestört? | |
| Wenig. Ich war eher mitleidig. Männern geht es in dieser Gesellschaft | |
| sexuell so grottenschlecht. Schlechter als Frauen, denn anders als Frauen | |
| wissen sie gar nicht, was ihnen fehlt. Wenn das Abspritzen in Frauen, die | |
| ihnen etwas vorspielen, der Höhepunkt ihres sexuellen Lebens ist – wie | |
| traurig ist das denn? Der Puff ist ja nur das Symptom für diesen armen Sex, | |
| den wir haben. | |
| Was ist denn armer Sex – und was ist reicher? | |
| Das Arme ist, dass wir uns verzweifelt danach sehnen, einander im Sex zu | |
| berühren und glücklich zu machen. Und dass wir es nicht schaffen. Frauen | |
| faken Orgasmen, das ist nicht nur ein lustiges Thema für die Klatschpresse. | |
| Das ist jedes Mal eine verfehlte sexuelle Kommunikation. Und Männer sagen: | |
| Das, worauf du Lust hast, sorry, da schlafe ich ein, ich brauch was | |
| Geileres. Da sind so viele falsche Vorstellungen. Penis muss in Vagina, das | |
| ist so eine enge Vorstellung von Sexualität. Und dann noch in der | |
| romantischen Zweierbeziehung. Das haben Hollywood und die Pornoindustrie | |
| dann kommerzialisiert. Aus diesen falschen Bildern entstehen sexueller | |
| Missbrauch, sexuelle Traumen von Frauen. Und all das lastet auf unserem | |
| Sex. | |
| Nun kann man sagen: Kismet, so ist unser Sex geworden, nun müssen wir uns | |
| damit durchwurschteln. Sie denken, es sei noch etwas ganz anderes möglich. | |
| Was wäre das? | |
| Der richtige Sex muss befreit sein von Definitionen, die uns Stress machen. | |
| Gedanken wie „Sex ist gut durch eine Erektion“, das macht Stress. Wir | |
| wissen gar nicht, wie wir unsere Sexualität schützen können vor diesen | |
| Definitionen. Ich habe zum Beispiel irgendwann Slow Sex entdeckt. Wir haben | |
| stundenlang zusammengelegen, ein ultraentspannter kleiner, unerigierter | |
| Penis in einer ultraentspannten Vagina. Da passierte lange nichts – außer | |
| dass mir das Bein einschlief und meinem Freund der Rücken wehtat. Aber nach | |
| mehreren Versuchen kam eben doch etwas, und das war viel besser als alles, | |
| was wir je erlebt hatten. Wir hatten unsere Genitalien wieder empfindsam | |
| und sensibel gemacht. Ich hatte meinen ersten vaginalen Orgasmus. Ja, meine | |
| lieben vorherigen Sexualpartner, den ersten! | |
| War das der Punkt, an dem Sie aus der Prostitution ausgestiegen sind? | |
| Ja. Es war mir aber schon vorher langweilig geworden. Und dann war ich bei | |
| einem Workshop, bei dem wir in einer Frauengruppe unseren G-Punkt entdecken | |
| sollten. Ich war vaginal eigentlich ziemlich taub. Das war erst mal | |
| lustig, weil wir da mit Latexhandschuhen ineinander rumfingerten; | |
| irgendwann bekommt man einen Krampf im Finger … Jedenfalls haben wir ihn | |
| gefunden, und das war eine so aufgelöste, vorsprachliche, flüssige, | |
| ekstatische Erfahrung! Danach war ich noch drei Wochen im Puff. Und dann | |
| habe ich eines Morgens die Augen aufgemacht und gedacht: Ich geh nicht mehr | |
| hin. Ich hatte es ausgetrunken. | |
| Ihre schlechten Erfahrungen haben keine Rolle gespielt? | |
| Nicht direkt. Dass ich da traumatisiert worden war, habe ich erst später | |
| bemerkt. Ich hatte einen Freier, der gewaltsam Sex mit mir hatte. Er war | |
| ein sehr wohlüberlegter Sadist. Ein höflicher, freundlicher Mann. Aber | |
| irgendwann ging er einfach über mich hinweg, er fasste mich brutal an und | |
| vögelte brutal. Er wollte kein Einverständnis. Es war eine Vergewaltigung, | |
| obwohl es juristisch natürlich keine war, weil ich nicht Nein gesagt habe. | |
| Er hat mir vorgeführt, wie sehr ich keine Grenzen setzen kann, weil ich auf | |
| so etwas überhaupt nicht vorbereitet war. Ich behaupte, keine Frau ist | |
| darauf vorbereitet, weil wir alle zu diesen lächelnden, netten Mädchen | |
| erzogen werden. | |
| Das berühmte „Sie hat sich nicht gewehrt“. | |
| Ja. Ich arbeite mit vielen Frauen, die sagen: Nein, das war keine | |
| Vergewaltigung, es war ja in meiner Beziehung, und ich hab nicht Nein | |
| gesagt. Und ich weiß genau, warum sie nicht Nein gesagt hat. | |
| Warum? | |
| Weil wir die lächelnden Mädchen sind. Weil wir niedlicher sind, wenn wir | |
| leise weinen, als wenn wir wütend sind. Unser Instinkt, mit dem wir | |
| Traumatisierungen vorbeugen könnten, wird unterdrückt. Der Schutzinstinkt: | |
| Revier ziehen, Nein sagen, Grenzen verteidigen. Und es gibt eben auch kein | |
| Ja, wenn man zu einem Nein gar nicht fähig ist. Wenn wir den Mädchen das | |
| Nein beibringen würden, bevor wir ihnen beibringen, Tangas anzuziehen, dann | |
| hätten wir ein sexuelles Paradies. Weil die Männer sich dann entwickeln | |
| müssten. | |
| Versuchen wir das nicht schon? | |
| Ach ja? Ich sehe Frauen, die eine Riesenangst haben. Sie haben Angst, dass | |
| sie, wenn sie Nein sagen, keinen Sex mehr haben. Dass der Typ sich | |
| abwendet. Und sie denken, dass ihr einziger Turn-on sei, „richtig | |
| durchgefickt“ zu werden, ein Gefäß zu sein. Ihre eigene Stärke kennen | |
| Frauen nicht. Frauenkörper sind Männerkörpern nicht unterlegen. Das ist | |
| eine patriarchale Lüge. Ich bin für sexuellen Feminismus. Und das ist der | |
| Grund, warum ich nicht mehr in der Prostitution arbeite. Ich kann mit | |
| meiner sexuellen Kraft weiß Gott etwas Besseres anfangen, als zu sagen: | |
| „Ich bin heute dein Gefäß.“ | |
| 15 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Heide Oestreich | |
| ## TAGS | |
| Sex | |
| Prostitution | |
| Feminismus | |
| Sexuelle Gewalt | |
| sex-positiv | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse | |
| Prostitutionsschutzgesetz | |
| Sexualität | |
| Die Partei | |
| Frauen | |
| taz-Serie Sexuelle Gewalt | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Pornografie | |
| Feminismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Schutz von Prostituierten: Jenseits nackter Vorurteile | |
| Das Prostituiertenschutzgesetz wirkt, stellt eine Studie fest. Doch | |
| sinnvolle Verbesserungen werden wohl an der Union scheitern – aus purer | |
| Ideologie. | |
| Vorhautverengung und Impotenz: „Wir müssen hoch potent sein“ | |
| Nicht alle Männer können immer. Aber das Bild vom stets geilen, stets | |
| willigen Mann macht es Betroffenen schwer, darüber zu sprechen. | |
| Meistgeklickt auf taz.de 2017: Krawall und Remmidemmi | |
| Welche Texte wurden 2017 auf taz.de am meisten angeklickt? Wir haben die | |
| Top 5 zusammengestellt und die Autor*innen dazu befragt. | |
| Körper, Pickel, Kulturindustrie: Aufstand der Malerinnen | |
| Junge Frauen fordern in Online-Netzwerken Schönheitsideale und Normen | |
| heraus. Seinen Körper lieben, wie er ist – klingt logisch. | |
| Sexuelle Gewalt und Prostitution: Das Problem ist euer Bild von uns | |
| Sexuelle Belästigung gibt es in der Prostitution wie in jedem anderen Job. | |
| Es braucht Lösungsansätze, die nicht die gesamte Kundschaft | |
| kriminalisieren. | |
| Debatte Feminismus im Alter: Selbstgewiss und radikal | |
| Wie geht Feminismus ab 60? Warum das Verbergen des Alters Frauen | |
| domestiziert. Und warum sie anfällig sind für Ressentiments gegen | |
| Migranten. | |
| Realistischer Sex in Pornografie: Realer als Analsex | |
| Pornos prägen, was viele Menschen über Sex wissen und wie sie ihn haben. | |
| Eine Reihe neuer Projekte versucht deshalb, Sex realistischer darzustellen. | |
| Produzentin über Pornografie: „Ein Shoot braucht seine Zeit“ | |
| Erika Lust produziert Erotikfilme, die Frauen nicht als Objekte zeigen. Ein | |
| Gespräch über Lügen, Fantasien und Feminismus. |