| # taz.de -- Debatte Sozialdemokraten nach der Wahl: Ein neues Godesberg für di… | |
| > Die SPD muss Antworten finden auf die Probleme unserer Tage. Eine neue | |
| > Fraktionschefin allein reicht nicht – eine wirkliche Wende ist fällig. | |
| Bild: Immer mehr treten aus: In den letzten 30 Jahren sank die Mitgliederzahl d… | |
| Nach zwei krachend verlorenen Wahlen, mit nur noch 30 Prozent der Stimmen, | |
| beschloss die SPD auf ihrem Godesberger Parteitag 1959, den Sozialismus | |
| einzutauschen gegen die Teilhabe am Wirtschaftswunder. Nicht länger | |
| Vergesellschaftung, sondern steigende Löhne, Sozialstaat und Mitbestimmung, | |
| das war der Deal. Was aber wird sein, Genossen, so fragte der SPD-Linke | |
| Peter von Oertzen in Godesberg, wenn das Wachstum einmal ausbleibt? | |
| 58 Jahre danach steht Oertzens Frage wieder auf der Tagesordnung. Immerhin | |
| – ein gutes Jahrzehnt lang konnte die SPD das Land verändern: das | |
| Familienrecht modernisieren, die Psychiatrie humanisieren, das | |
| Bildungswesen demokratisieren – das wirkt bis heute. Dann kippte die | |
| Weltkonjunktur, Globalisierung und „Finanzwirtschaft“ schwächten die | |
| Fähigkeit der Politik, den Kapitalismus einzuhegen. Von Jahrzehnt zu | |
| Jahrzehnt sanken die Profitraten, mussten durch Verschuldung gestützt | |
| werden, bis mit der Agenda 2010 die „Konsolidierung“ begann. Das | |
| Godesberger Programm ist abgelaufen. | |
| „Es ist Zeit für eine grundsätzliche Entscheidung.“ So lautete der Refrain | |
| des 118 Seiten langen SPD-Regierungsprogramms von 2017. Die Dramatik passt | |
| zu den Problemlagen unserer Tage wie Klima, Digitalisierung, | |
| Pflegenotstand, Europazerfall, Verteilungsungerechtigkeit, Bildungsarmut, | |
| Migration. Aber die Aufbruchsfanfare wird schon nach wenigen Seiten | |
| gedämpft, mit der einlullenden Botschaft: „Trotz aller Krisen: Unsere | |
| soziale Marktwirtschaft ist ein Erfolgsmodell“; auch weiterhin werden wir | |
| Sozialdemokraten durch das Drehen an vielen kleinen Rädern den Wohlstand | |
| von Jahr zu Jahr ein wenig steigern. | |
| „Weiterhin“ ist das häufigste Wort im Programm: weiterhin für alle immer | |
| noch etwas mehr. Es ist immer noch das Godesberger Versprechen, nur dass | |
| immer weniger Menschen daran glauben. In den letzten 30 Jahren sank die | |
| Mitgliederzahl der SPD auf die Hälfte, ebenso wie die der Wähler. | |
| Und nun? Ein paar Regionalkonferenzen werden nicht reichen und auch nicht | |
| Andrea Nahles als erste Oppositionsrednerin. Sondern zunächst eine | |
| illusionslose Inventur der multiplen Krisen und ein wenig Theorie (was seit | |
| Peter Glotz nicht mehr so üblich ist in der Partei). Und dann ein paar | |
| erste tastende Antworten auf die sozialdemokratische Frage des 21. | |
| Jahrhunderts: „Wie können unter Globalisierungsbedingungen und ohne | |
| Wachstum Vollbeschäftigung, intakte Umwelt, Generationengerechtigkeit, | |
| Bildung, soziale Sicherheit, öffentliche Daseinsvorsorge gesichert werden?“ | |
| Mit anderen Worten: Eine Wende von Godesberger Ausmaß ist fällig. | |
| Um die Dimensionen anzudeuten, ein paar subjektive Stichworte: eine | |
| wirklich allgemeine Bürgerversicherung mit progressiven Tarifen wäre nötig | |
| (die im SPD-Programm ist eine Mogelpackung); ein schnelles Verbot weiterer | |
| Privatisierungen von kommunalem Eigentum, um den sozialen Wohnungsbau neu | |
| zu begründen; eine Deckelung der Bodenpreise in der Landwirtschaft, um die | |
| Existenz von Kleinbauern zu sichern; ein robuster Ausbau der Pflege und | |
| ihre Entkommerzialisierung; mehr Lehrer und ein Ende des | |
| Bildungsföderalismus. Und schließlich: In einer Wirtschaft unter | |
| Automatisierungsdruck muss entweder die Normalarbeitszeit verkürzt oder der | |
| staatlicher Sektor ausgebaut werden – wenn die Gesellschaft nicht mit der | |
| Stilllegungsprämie Grundeinkommen weiter gespalten werden soll. | |
| Vor allem aber dürfte sich die SPD, will sie ihren Universalismus nicht | |
| verraten, der unangenehmsten Aufgabe nicht entziehen: den Wohlstandsbürgern | |
| die Notwendigkeit eines europäischen Finanzausgleichs und eines | |
| internationalen Reichtumstransfers (= Bekämpfung der Fluchtursachen) | |
| nahezulegen: Entweder wir teilen, oder wir müssen irgendwann die Grenzen | |
| militärisch verteidigen – die Kosten dürften in beiden Fällen hoch sein, | |
| und ein paar hundert Milliarden Reichensteuer reichen dafür nicht aus. | |
| Der Slogan stimmt ja: Es wird Zeit für grundsätzliche Entscheidungen. Große | |
| Veränderungen sind nötig, nicht kleinteilige Umbuchungen. Und ja, die | |
| Zukunft wird Opfer verlangen, nicht nur von den Reichen. Die als | |
| Investitionen in die Zukunft zu vermitteln – auch gegen die unmittelbaren | |
| materiellen Interessen und die „märchenhafte Gier der | |
| Mittelschichten“(Glotz), das wäre die Aufgabe einer neuen | |
| Sozialdemokratie. | |
| ## Rückgrat des Staates | |
| Jetzt und hier ist das ein frommer Wunsch, denn woher soll das Personal für | |
| eine solche politische Kulturrevolution kommen? Die SPD – im Kern sind das, | |
| so erklären es Parteienforscher, 80.000 „ämterorientierte Aktive“: | |
| Kommunalbeamte, Krankenkassen-direktoren, Sparkassenaufsichtsräte, | |
| Gewerkschaftsfunktionäre, Pressereferenten von Landtagsfraktionen, | |
| Rundfunkräte – kurz: das Rückgrat des Staates, so wie er ist. | |
| Nicht gerade repräsentativ für die 90 Prozent der Bürger, die sich (in | |
| einer seriösen Studie der Bertelsmannstiftung) angesichts von Klimawandel | |
| und Schuldenkrise eine neue Wirtschaftsordnung wünschten, da der | |
| Kapitalismus weder für den Schutz der Umwelt noch für sozialen Ausgleich | |
| noch für einen sorgfältigen Umgang mit Ressourcen sorge. Und auch nicht für | |
| die Hälfte aller Dreißigjährigen, die der Meinung sind, dass „der | |
| Kapitalismus die Welt zugrunde richtet“. | |
| 80.000 Aktive, das ist nicht viel – ein paar Hunderttausend neue | |
| Mitarbeiter könnten die Firma in ein paar Jahren übernehmen und | |
| revitalisieren. Undenkbar ist das nicht: In den 1970er Jahren trat fast | |
| eine halbe Million ein und brachte für ein Jahrzehnt neue Kräfte nach oben. | |
| Warum, so fragte kürzlich ein amerikanischer Beobachter, wählen die gut | |
| ausgebildeten, aber in eine prekäre Zukunft blickenden, kritischen, | |
| ökologisch und sozial denkenden jungen Deutschen Merkel, wo sie in den USA | |
| mehrheitlich für Sanders stimmen, in England in die Labor Party eintreten | |
| und in Südeuropa links votieren? Seine Antwort lautete, kurz gefasst: Sie | |
| leben immer noch vom Polster der Godesberger Jahre. Und da beißt sich die | |
| politische Katze in den Schwanz. Einstweilen. | |
| 1 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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