# taz.de -- Frauen in Saudi-Arabien: Nur einen kleinen Teil vom Himmel | |
> Manal al-Sharif griff in Saudi-Arabien nach den Sternen, indem sie Auto | |
> fuhr. Erreicht hat sie wenig, nur die Distanz zu ihrem ältesten Sohn. | |
Bild: Das Autofahren machte Manal al-Sharif nicht frei | |
Ich habe zwei Söhne. Sie haben sich noch nie von Angesicht zu Angesicht | |
gesehen. Sie haben noch nie miteinander gespielt, sich noch nie gegenseitig | |
geärgert oder gekitzelt, noch nie miteinander Verstecken gespielt, sich | |
noch nie auf dem Boden gebalgt, sich noch nicht einmal einen Ball | |
zugeworfen. Sie haben T-Shirts, auf denen steht „Großer Bruder“ und | |
„Kleiner Bruder“. Sie kennen ihre jeweiligen Kosenamen, und ihre Augen | |
sehen fast gleich aus. Sie wissen, dass sie dieselbe Mutter haben. Und ich | |
weiß, dass es nur einen einzigen Weg gibt, um einen der beiden in den Arm | |
zu nehmen: Ich muss den anderen zurücklassen. | |
Dabei ist meine Lage alles andere als ungewöhnlich. Ich habe einen Mann | |
geheiratet, habe ein Kind bekommen, wurde geschieden. Ein paar Jahre sind | |
vergangenen, ich bin nach Dubai gezogen, habe wieder geheiratet und ein | |
zweites Kind bekommen. So wie es eben läuft. Aber es gibt einen | |
Unterschied: Ich bin eine Frau aus Saudi-Arabien, die einen Mann aus | |
Saudi-Arabien verlassen hat, und obwohl mein zweiter Ehemann zum Islam | |
konvertierte, besitzt er nicht die saudische Staatsbürgerschaft. Darum ist | |
alles anders: Die saudische Regierung hat die Erlaubnis für unsere Ehe | |
verweigert. Mein kleiner, glücklich lachender Junge ist für sie bestenfalls | |
ein uneheliches Kind. Schlimmstenfalls existiert er für sie gar nicht. | |
Ich hatte nicht vor, Saudi-Arabien zu verlassen, aber im Mai 2011 tat ich | |
etwas so Schreckliches, dass man mich für neun Tage ins Gefängnis steckte. | |
Ich fuhr mit dem Auto meines Bruders auf saudischen Straßen, mein Bruder | |
neben mir, meine Schwägerin, ihr Baby und mein Sohn Aboody saßen auf der | |
Rückbank. Ich wurde verhaftet, weil ich als Frau am Steuer saß. Das ist in | |
Saudi-Arabien verboten. Ich machte weiter, wurde überwacht, schikaniert und | |
erhielt Morddrohungen, bis schließlich mein Job und mein Haus weg waren – | |
und mir keine Wahl mehr blieb, als das Königreich zu verlassen. | |
Doch all diese Verluste sind nichts im Vergleich zum allergrößten Verlust: | |
Ich musste meinen sechseinhalbjährigen Sohn zurücklassen. Bis dahin | |
spielten wir zusammen, wir gingen ins Schwimmbad, an den Strand, wir haben | |
zusammen gesungen, getanzt, wir trugen die gleichen Schlafanzüge, T-Shirts | |
und Crocs. Es gibt sehr viele Fotos von uns, auf denen wir lachend, | |
spielend, Grimassen schneidend zu sehen sind. Doch dann wurden es immer | |
weniger. | |
## Überall kämpfen Mütter mit den Tränen | |
Ich hatte mich in der Hoffnung ans Steuer gesetzt, dass Frauen in der | |
saudischen Gesellschaft ihr Leben selbst in die Hand nehmen können – und | |
ich wollte durch die Befreiung der Frauen auch die Männer befreien. Ich | |
hatte es auch für meinen Sohn Aboody getan, damit er einmal in einer | |
besseren Gesellschaft lebt. Doch stattdessen hat es uns immer weiter | |
auseinandergetrieben. Nach einer Scheidung erhalten Väter in Saudi-Arabien | |
das alleinige Sorgerecht für die Kinder, ebenso wie die gemeinsame Wohnung | |
und alles, was darin ist. | |
Frauen müssen in das Haus ihres Vaters zurückkehren, der dann wieder ihr | |
Vormund wird. Mädchen können bis zum Alter von sieben Jahren bei ihren | |
Müttern leben. Jungen müssen sich in diesem Alter entscheiden, wo sie leben | |
wollen. So lauten die ansonsten eher vagen Regeln, obwohl Scheidungen im | |
streng religiösen Königreich eine ganz alltägliche Angelegenheit sind. Nach | |
neuesten Angaben der staatlichen Statistikbehörde wird etwa ein Drittel | |
aller Ehen geschieden. | |
Überall im Land kämpfen Mütter mit den Tränen, weil man sie zwingt, die | |
Kinder zu verlassen, die sie großgezogen haben, und für immer aus den | |
Häusern auszuziehen, in denen ihre Babys die ersten Schritte machten und | |
ihre ersten Gebete sprachen. | |
Aboody und ich mussten uns von unseren Sternen verabschieden. Nachts | |
standen wir oft auf dem kleinen Balkon unseres Townhouses, suchten nach den | |
Sternbildern und zählten Sterne. Er gab jedem einen Namen, taufte sie nach | |
seinen Cousins und Cousinen oder nach Freunden. Meiner, so war er | |
überzeugt, war ein goldener mit einem Laptop und einer Aktentasche, aber | |
diesen Stern haben wir am Himmel nie wirklich entdeckt. Als ich meine | |
Bücher, meine Kleider und ein bisschen Geschirr einpackte, konnte ich das, | |
was ich am meisten wollte, nicht mitnehmen: diesen schmalen Balkon und | |
unseren kleinen Teil vom riesigen Himmel. | |
## Zurück ins Haus der Schläge | |
Ich hoffte, dass mein Sohn mich im nur eine Flugstunde von meinem früheren | |
Wohnort entfernten Dubai besuchen würde. Aber mein Ex-Ehemann änderte seine | |
Meinung. Ich sollte nach Saudi-Arabien kommen, wenn ich Aboody sehen | |
wollte. Jedes zweite Wochenende kaufte ich mir ein Flugticket und flog zu | |
ihm. Da ich keine Wohnung mehr hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als | |
für diese kostbaren Wochenenden in das Haus meiner Ex-Schwiegermutter | |
zurückzukehren, in dem meine Ehe gescheitert und zerbrochen ist. Das Haus, | |
in dem mein Körper so oft geschlagen und verletzt wurde, dass ich lieber | |
nicht daran denke. | |
Aboody wächst jetzt bei seiner Großmutter auf. Mein Ex-Mann hat wieder | |
geheiratet und inzwischen zwei Töchter. Früher wusste ich alles von meinem | |
Sohn: sein Lieblingsessen, seine Lieblingsfarbe, die Spiele, die er gerne | |
spielte, die Filme, was er gern anzog, seine neusten Kunststücke und die | |
Namen seiner besten Freunde. Doch jetzt wird er mir immer fremder. Ich muss | |
seine Großmutter fragen, mit wem er jetzt befreundet ist, was er gerne isst | |
und wann er zuletzt zum Schwimmen gegangen ist. | |
Ich habe mir einen Anwalt gesucht, um dafür zu kämpfen, dass mein Sohn mich | |
in Dubai besuchen durfte. Zwei Jahre lang habe ich prozessiert und | |
Zigtausende Riyal ausgegeben. Mein Vater hat sogar eine Verpflichtung | |
unterschrieben, dass er freiwillig ins Gefängnis gehen werde, sollte Aboody | |
von einem Besuch bei mir nicht nach Saudi-Arabien zurückkehren. | |
Aber das Urteil lautete: Nein! Das Gericht zitierte dazu einen islamischen | |
Text aus dem zehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Kamele und Karawanen, | |
die durch die heiße Wüste zogen, der vor der Gefahr warnte, „dass ein Kind | |
auf einer solchen Reise über eine so beschwerliche Distanz zu Tode kommen“ | |
könnte. Ich ging in Berufung und zitierte dazu einige Passagen aus dem | |
Koran und aus den Hadithen, den überlieferten Aussagen des Propheten, die | |
belegen, dass mein Sohn mich besuchen darf. Ich verlor wieder. | |
Im Jahr 2014 wurde schließlich mein zweiter Sohn geboren. Seinen Vater | |
hatte ich nicht in Saudi-Arabien geheiratet, auch nicht in Dubai, wo wir | |
lebten. Unsere Ehe wurde von einem Standesamt in Kanada bescheinigt. Nach | |
den Regeln des Königreichs dürfen Untertanen des Landes einen Nichtsaudi | |
nur mit offizieller Erlaubnis heiraten. Außerdem müssen sie schriftlich | |
versichern, dass sie niemals die saudische Staatsangehörigkeit für eines | |
der Kinder aus dieser Ehe beantragen werden. Frauen dürfen für die | |
Genehmigung nicht jünger als 30 Jahre sein, oder sie müssen eine | |
Behinderung vorweisen können, die sie für saudische Männer „unzumutbar“ | |
macht. | |
Der Ausländer muss zudem Muslim sein, darf keine ansteckenden Krankheiten | |
oder genetischen Defekte haben, er darf nicht vorbestraft und nicht beim | |
Militär eines anderen Landes gewesen sein. Grundsätzlich ausgeschlossen | |
sind Ehen mit Partnern aus Pakistan, Bangladesch, dem Tschad und aus | |
Myanmar. Mein Verlobter stammte aus Brasilien, wir bekamen keine | |
Genehmigung. In Dubai wollte man uns nicht ohne den offiziellen Segen der | |
saudischen Botschaft trauen. Und weil meine Ehe bis heute nicht anerkannt | |
ist, ist es auch mein zweites Kind nicht. | |
Als Aboody sechs war, wünschte er sich einen Bruder, den er »Hamza« nennen | |
wollte, mutiger Löwe. Mein zweiter Sohn heißt Daniel Hamza. Mein | |
neugieriger, lauter, etwas spitzbübischer Sohn hat mein Heimatland noch nie | |
gesehen. Er kennt seinen großen Bruder nur von Fotos und davon, wie sie | |
sich auf Computerbildschirmen übers Internet zuwinken. Weil ich in den | |
Augen des saudischen Staates nicht verheiratet bin, bekommt mein Sohn auch | |
kein Visum, und in meinem Pass kann er nicht eingetragen werden. | |
Auch als meine Mutter an Krebs starb, konnte ich mein damals 18 Monate | |
altes Baby nicht mit nach Hause nehmen, damit die Großmutter seine prallen | |
Füßchen und seine braunen Locken streicheln und ein letztes Mal sein | |
lächelndes Gesicht sehen könnte. | |
Wenn ich mit Aboody zusammen bin, nenne ich ihn Dani. Wenn ich mit Dani | |
zusammen bin, nenne ich ihn Aboody. Ewig sehne ich mich nach dem jeweils | |
anderen Sohn. Doch näher können sie sich nicht kommen, als wenn sie nachts | |
in den Himmel schauen und dieselben Sterne sehen. | |
Aus dem Englischen von Joachim von Zepelin | |
27 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Manal al-Sharif | |
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