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# taz.de -- Krise in Venezuela: Meine Mutter, die Chavistin
> Telefonieren mit Caracas: Die Mutter des Autors lebt in Venezuela und ist
> Chávez noch immer treu. Doch damit ignoriert sie die Wirklichkeit.
Bild: Diese Frau hat den Glauben schon verloren
Berlin taz | Regelmäßig telefoniere ich mit meiner Mutter, die seit 1990,
nachmehr als dreißig Jahren Aufenthalt in Westdeutschland, wieder im Land
ihrer Geburt lebt. Wenn sie mich fragt, wie es um Deutschland steht, weiß
ich, dass ich drei Sätze zusammensuchen muss, um einen einigermaßen
interessanten Kurzbericht zu fabrizieren. Was sie von Venezuela zu erzählen
hat, ist fesselnd, in den vergangenen Wochen aber auch zunehmend
beunruhigend, sodass unsere Gespräche lange dauern.
Meine Mutter ist 77 Jahre alt – und immer noch eine treue Anhängerin von
Hugo Chávez, den sie als zweiten Befreier Lateinamerikas bezeichnet. Der
spanische Begriff für Befreier lautet „Libertador“, es ist der Ehrentitel
für Simón Bolívar, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die
Unabhängigkeit für zahlreiche Länder des Kontinents erkämpfte. Bolívar
heißt in Venezuela auch die Landeswährung, die seit dem Preisverfall des
Öls im Jahr 2014 rasant an Wert verlor. Wenn Venezolaner einkaufen gehen,
tragen sie Bündel von 100-Bolívar-Scheinen mit sich, mit denen sie sich
mitten in der Nacht vor den Supermarkt stellen, um ein Brot oder ein Kilo
Reis zu ergattern.
Meine Mutter steht täglich Schlange. Diese können im Lauf des Tages mehrere
hundert Meter lang werden. Hyperinflation und Versorgungskrise sind
Errungenschaften der Bolivarischen Revolution, die mit der Wahl des
„Comandante“ Hugo Chávez Frías 1998 begann und nach seinem Krebstod 2013
von Nicolás Maduro fortgesetzt wird.
Meine Mutter macht für die venezolanische Katastrophe ein von den USA
geführtes internationales Komplott verantwortlich, das den Sturz der
sozialistischen Regierung zum Ziel hat, um eine Exploitation der
weltgrößten Ölreserven zu erleichtern. Ihr erscheint die Opposition als
Motor der Krise. Mit dieser Meinung steht sie nicht allein. Linke
Intellektuelle wie der Historiker Tariq Ali oder die amerikanische
Journalistin Abby Martin arbeiten für den englischsprachigen Kanal von
Telesur, den TV-Sender der venezolanischen Regierung, und vertreten dort
ähnliche Thesen.
Es ist auf den ersten Blick auch nicht abwegig, zu einer Interpretation zu
gelangen, derzufolge die Demonstrationen der letzten Monate gegen die
Regierung Maduros den Protest der Mittel- und Oberklasse darstellen, die
ihre Privilegien zurückerkämpfen möchte, die sie vor Chávez’
Regierungsantritt gehabt hat. Für die derzeitige politische und soziale
Krise sind tatsächlich auch die Vorgängerregierungen mitverantwortlich.
Doch wird dieses Argument von Regierungstreuen benutzt, um die ebenso große
Verantwortung des Chavismus für die jetzige Misere zu leugnen.
## Freund oder Feind
Es ist richtig, dass das Land bis 1998 von einem bürgerlichen
Zweiparteiensystem (AD und Copei) beherrscht wurde. Es ist auch richtig,
dass die Parteien der Dynamik sozialer Veränderungen nicht mehr Herr
wurden, zweifelhafte Bedingungen des Internationalen Währungsfonds
akzeptierten, die Wirtschaft mit bürokratischen und ineffizienten Maßnahmen
ruinierten, korrupt waren und Aufstände blutig niederschossen, sodass 1998
der politische Außenseiter Hugo Chávez beinahe zwangsläufig als Sieger aus
den Wahlen hervorgehen musste.
Zur Narration der venezolanischen Linken gehört auch, dass Chávez
zahlreiche Betriebe, darunter den Ölmulti PDVSA, verstaatlichte und die
Gewinne in soziale Projekte steckte. Ebenso ist der gescheiterte
Putschversuch im April 2002 fester Bestandteil linker Überzeugungen, auch
weil private Fernsehsender in Venezuela damals Informationen bewusst
fälschten, um die bolivarische Regierung zu diskreditieren.
Übersehen wird aber, dass Chávez ein autoritäres Selbstverständnis hatte,
das in ein Freund-Feind-Schema mündete. Die sozialen Projekte für die
Besitzlosen verwandelten sich schnell in ein klientelistisches System, das
die Befürworter seiner Politik belohnte und die Gegner mit bürokratischen
Hindernissen bestrafte. Chávez war ein begnadeter Redner, konnte in
Interviews gewinnend sein, wurde aber von seinem Narzissmus – den seine
Anhänger mit ihrer Bewunderung fütterten – derart angetrieben, dass er
glaubte, ein politischer Messias zu sein.
## Chávez war ein gefährlicher Populist
So erklären sich seine fahrlässigen Entscheidungen in der Außenpolitik,
etwa mit Irak und Iran politische Partnerschaften zu schließen, während ihm
die USA stets als imperialistischer Blutsauger galten. Chávez war ein
gefährlicher Populist, weil er sein ressentimentbeladenes Weltbild als eine
Erlösungsgeschichte verstand, in der es darum ging, die Welt von
Neoliberalismus und Kapitalismus zu befreien. Und er war ein politischer
Amateur, der sehr viel Glück hatte, weil der hohe Ölpreis von 2004 bis 2012
ihm in die Hände spielte. Man muss beim Chavismus von einem ökonomischen
Analphabetismus sprechen, dessen Folgen die Venezolaner bald zu spüren
bekamen.
Die Zirkulation von Waren wurde nahezu zum Erliegen gebracht durch massive
Verstaatlichung, die Eigenständigkeit der Händler gelähmt und beschnitten.
Der Staat war aber vollkommen überfordert, weil er von Vorgängen, wie zum
Beispiel Milch produziert wird oder wie der Vertrieb von Lebensmitteln
funktioniert, nichts verstand. Deswegen kümmert sich der Staat in
bürgerlichen Demokratien um die Rahmenbedingungen der Wirtschaft. Um den
entscheidenden Rest kümmern sich die Bürger.
Die venezolanische Regierung versteht schon diese Arbeitsteilung als
„Neoliberalismus“. Anhänger des bolivarischen Regimes können eloquent ihr
System verteidigen und dabei die Wirklichkeit ignorieren. Die
Parlamentswahlen 2015 hatte der Zusammenschluss der Oppositionsparteien
haushoch gewonnen. Ende 2016 debattierten in der „Asamblea Nacional“ die
Abgeordneten über die kritische Lage der Nation. Die Unterernährung der
Säuglinge, die Verzweiflung vieler Mütter, der dramatische Verfall des
Bolívars: Die sozialistischen Abgeordneten kümmerte die Krise nicht. Maduro
und seine Clique hetzten schließlich, es war der 5. Juli 2017, einen Mob
auf das Parlament, der auf die frei gewählten Volksvertreter einschlug. Wer
die Bilder gesehen hat, kommt zur Schlussfolgerung: Es gibt keinen
Rechtsstaat in Venezuela mehr.
## Maduro ist inzwischen bis an die Zähne bewaffnet
Am vergangenen Samstag zog Präsident Maduro mit seinem Anhang feierlich in
die Nationalversammlung. Bei diesem Anhang handelt es sich um die
Delegierten der „Verfassunggebenden Versammlung“. Der Beschluss zur
Veränderung der Verfassung bedurfte zuvor einer Abstimmung. Sie wurde mit
allen Tricks zugunsten der Sozialisten geführt: unter anderem durch
Anhänger, die mehrmals wählen gingen.
Präsident Maduro und seine Gefolgsleute sind inzwischen bis an die Zähne
bewaffnet. Die Nationalgarde wurde in den letzten Jahren von 30.000 auf
60.000 erhöht. In der venezolanischen Armee befinden sich allem Anschein
nach auch Söldner der kolumbianischen Farc-Guerilla. In diesem Zusammenhang
behauptete Maduro immer, dass die Revolution sich gegen einen Putsch der
Opposition schützen müsse.
Oppositionspolitikern wie Leopoldo López wurde vorgeworfen, Gewalt zu
schüren. In seinen öffentlichen Reden ist aber nicht erkennbar, dass er die
Demonstranten aufhetzt. Trotzdem wurde López in der vergangenen Woche
erneut verhaftet. Präsident Maduro wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die
Dosis an Beschuldigungen erhöhen, dass ein internationales Komplott für die
Misere Venezuelas verantwortlich ist.
Währenddessen erscheinen jeden Tag neue Berichte über die unfassbare
Korruption und kriminelle Bereicherung durch führende Chavistas. Viele
Venezolaner befürchten, dass es in naher Zukunft zu einem Bürgerkrieg
kommen wird oder die Chavisten eine brutale Diktatur errichten werden.
Währenddessen muss jeder, dem es gelingt, das Land zu verlassen, obwohl die
meisten internationalen Fluglinien Venezuela nicht mehr anfliegen,
befürchten, dass die eigene Wohnung sofort verstaatlicht wird.
Meiner Mutter ist klar, dass es Chávez war, der die Büchse der Pandora
geöffnet hat – und dass es längst nicht mehr darum geht, neoliberalen
Vorstellungen eine Politik des sozialen Ausgleichs gegenüberzustellen. Ihr
erscheint aber immer noch entscheidender, dass die Ablehnung des Regimes in
tiefen gesellschaftlichen Ressentiments wurzelt.
13 Aug 2017
## AUTOREN
Manuel Karasek
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