# taz.de -- Essay Die Linke und Venezuela: Blinde Solidarität aufgeben | |
> Dass die Krise in Venezuela sozial und ökonomisch so dramatisch ist, | |
> liegt nicht an ausländischen Interventionen. Sie ist hausgemacht. | |
Bild: Was wird aus den Kindern der Revolutionäre? Hier eine Gruppe Jungs in Ku… | |
Als ob die Idee des Sozialismus das auch noch gebraucht hätte: Was derzeit | |
in Venezuela geschieht, dürfte den Verfechtern konservativen und | |
marktapologetischen Denkens in die Hände spielen – auf Jahre, wenn nicht | |
Jahrzehnte hinaus. Und dies nicht nur in Lateinamerika, sondern womöglich | |
weltweit. | |
Dazu kommt, dass die fatale und oft vollkommen kritiklose Solidarität mit | |
der abgewirtschafteten und vom Militär abgesicherten Regierung in | |
Venezuela, auf die deren Präsident Nicolás Maduro bei vielen Linken | |
weltweit zählen kann, jede Idee linker Gesellschaftsveränderung weiter | |
diskreditiert. Diese kritiklose Unterstützung ist nicht nur in Brasilien | |
und Mexiko zu finden, sondern zum Beispiel auch bei der spanischen Podemos | |
und beim französischen Linkspolitiker Mélenchon. | |
Dabei ist es notwendiger denn je, sich für eine andere Zukunft einzusetzen: | |
Denn der Kapitalismus, der die unproduktive Gier zur legitimen Maxime jeden | |
gesellschaftlichen Handelns erklärt, zerstört die Lebensgrundlage aller. | |
Dagegen braucht es die linke Grundvorstellung, der Staat habe dafür zu | |
sorgen, dass der erarbeitete Wohlstand einer Gesellschaft dazu benutzt | |
wird, die Grundbedürfnisse aller Bürger_innen zu decken – also Bildung, | |
Gesundheit, Nahrung und kulturelle Teilhabe zu garantieren. | |
Der Staat muss die langfristigen Interessen des Gemeinwohls verteidigen und | |
nicht die kurzfristigen und eigennützigen Ziele kapitalistischer | |
Unternehmen oder Finanzgruppen. Ohne Umverteilung geht das nicht. Wie diese | |
aber zu organisieren sei, darüber streiten Linke seit eineinhalb | |
Jahrhunderten. | |
## Was rentabel war, wurde privatisiert | |
Einen tiefen Einschnitt bildeten die Jahre 1989/90: Mit dem Ende des | |
Staatssozialismus sowjetischer Prägung in Europa landete auch die Idee der | |
zentralisierten Planwirtschaft auf dem Müllhaufen der Geschichte – es | |
begann das Jahrzehnt des Neoliberalismus. | |
Der Siegeszug der Ideologie eines völlig freien Markts hatte überall auf | |
der Welt fatale Folgen. Diese zeigten sich aber besonders heftig in | |
Lateinamerika. Dort war der Neoliberalismus – durch die Wirtschaftspolitik | |
der von den USA protegierten Militärdiktaturen in den 70er und frühen | |
80er-Jahren – nahezu unter Laborbedingungen vorbereitet worden. | |
Die ohnehin schwachen, von Korruption gekennzeichneten staatlichen | |
Verwaltungen zogen sich immer mehr aus zentralen Aufgaben zurück. Was | |
rentabel war, wurde privatisiert, was nicht, wurde abgeschafft. Die Schere | |
zwischen Arm und Reich öffnete sich in dem ohnehin schon ungleichsten aller | |
Kontinente noch weiter. | |
Genau in diesem Moment trat Hugo Chávez im Februar 1999 seine erste | |
Amtszeit als gewählter Präsident an. Zunächst orientierte er sich an Simón | |
Bolívar und beschwor ihn als Befreier und Vereiniger Lateinamerikas, um | |
schon bald einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ zu propagieren. | |
## Da wurde nichts mehr im eigenen Land produziert | |
Er erkämpfte gegen erbitterten Widerstand die volle Regierungskontrolle | |
über die Einnahmen der venezolanischen Ölgesellschaft PDVSA und investierte | |
die Erdöldollars, die bei Preisen von über 100 Dollar pro Barrel reichlich | |
ins Land kamen, in Sozialprogramme und den Aufbau internationaler | |
Allianzen. | |
Er überstand 2002 einen Putschversuch der rechten Opposition vor allem | |
deshalb, weil er es vermocht hatte, den bis dato von der politischen | |
Teilhabe nahezu vollkommen ausgeschlossenen städtischen Armen das Gefühl | |
der Teilhabe zu geben. Nach Jahrzehnten der Nichtbeachtung durch die | |
traditionelle Politikerkaste rückten sie plötzlich ins Zentrum der Macht – | |
oder sie konnten das wenigstens glauben. | |
Was der Chavismus in keinem Moment auch nur ernsthaft versuchte: die vom | |
Erdölexport abhängige venezolanische Rentenökonomie umzubauen. Im | |
Gegenteil: Die hohen Rohölpreise machten es möglich, alles Notwendige zu | |
importieren – die heimischen Fabriken und Produktion von allem, was nichts | |
mit Erdöl zu tun hat, brachen zusammen. | |
Als die Erdölpreise verfielen, verlor diese Art der visionslosen | |
Umverteilung ihre wirtschaftliche Grundlage. Dass die ökonomische und | |
soziale Krise Venezuelas heute so dramatisch ist, liegt – anders als es | |
Präsident Maduro stets versichert – keineswegs an ausländischen | |
Interventionsversuchen und am „Wirtschaftskrieg“ gegen seine Regierung. Sie | |
ist hausgemacht. | |
## Abweichende Meinungen als putschistisch gebrandmarkt | |
Und so steht, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des sowjetischen | |
Imperiums, nun der nächste „Sozialismus“ betitelte Versuch vor demselben | |
Ergebnis: politisch autoritär bis diktatorisch, ökonomisch am Rand der | |
Staatspleite. | |
Parallel zur Durchsetzung des Neoliberalismus der 1990er Jahre vollzog sich | |
formal auch die Wiederherstellung der Demokratie in den Ländern | |
Lateinamerikas nach dem Ende der Militärdiktaturen. Der Staat, zur | |
Diktaturzeit als Unterdrückungsapparat allgegenwärtig, erfüllte jetzt aber | |
genau jene Aufgaben nicht, die ihn zum Träger des Gemeinwohls hätten machen | |
können. Kein Wunder also, dass viele Lateinamerikaner tief enttäuscht waren | |
und die liberale Demokratie als hohles Legitimationsinstrument der alten | |
Herrschenden ansahen. | |
Chávez behielt die demokratischen Spielregeln weitgehend bei, solange seine | |
politische Bewegung Wahlen und Volksabstimmungen stets haushoch gewann. | |
Aber auch er betrachtete und beschimpfte seine politischen Gegner als | |
Volksfeinde und Lakaien des Imperialismus. Abweichende Meinungen wurden, | |
wie in Kuba, als konterrevolutionär und putschistisch gebrandmarkt. | |
Dabei blieb dann auch die – zunächst durchaus vorhandene – Debatte | |
innerhalb seiner Anhängerschaft auf der Strecke. Prominente linke Kritiker | |
wie der Soziologe Edgardo Lander wurden ausgegrenzt – das alte | |
leninistische Modell der Führung, die als Avantgarde letztgültige | |
Wahrheiten verkündet, hielt wieder Einzug. | |
## Die Kritik blieb der Rechten überlassen | |
Und statt dafür zu arbeiten, die staatlichen Institutionen so zu gestalten, | |
dass sie auch einen durch Wahlen herbeigeführten Regierungswechsel als | |
Bollwerk demokratischer Kontrolle und Teilhabe überstehen könnten, | |
arbeitete schon Chávez darauf hin, einfach alle Institutionen unter | |
vollständige Kontrolle zu bekommen und am besten die Medien gleich mit. | |
Wie er agierten auch Evo Morales in Bolivien, Rafael Correa in Ecuador und | |
erst recht die Familiendiktatur des Ehepaars Ortega-Murillo in Nicaragua. | |
Und in dem Moment, wo der Chavismus 2015 die Parlamentswahlen in Venezuela | |
haushoch verlor, galten auch die Regeln nichts mehr: Das oppositionell | |
dominierte Parlament wurde entmachtet. Vor wenigen Tagen entließ Maduro die | |
kritische Generalstaatsanwältin. | |
Fatalerweise haben viel zu viele Linke im Ausland diese Entwicklungen | |
entweder aktiv gerechtfertigt oder zumindest beschwiegen. So blieb die | |
Kritik an objektiven demokratischen Defiziten der Rechten überlassen – die | |
dazu ob ihrer eigenen Geschichte und Gegenwart kaum berechtigt ist, aber | |
aus der Situation politischen Profit schlägt. | |
An dieser fatalen Entwicklung mitgewirkt hat der doppelte Einfluss Kubas. | |
Doppelt, weil einerseits die kubanische Regierung mit den nach Venezuela | |
entsandten Ärzten, aber auch mit etlichen Beratern sowohl des ideologischen | |
wie des Staatssicherheitsapparats in Caracas involviert war und ist. | |
Andererseits ist eine romantische Verklärung Kubas als einziges | |
verbliebenes, aufrechtes Bollwerk gegen den US-Imperialismus in der | |
lateinamerikanischen Linken fest verankert. | |
## Die Geschichte der US-Interventionen wirkt nach | |
Der Widerstand gegen den US-Imperialismus als Grundmotiv jeglichen | |
Linksseins hat seine historische Rechtfertigung durch Dutzende Beispiele | |
aus den letzten zwei Jahrhunderten: Ob der Putsch gegen Guatemalas Jacobo | |
Árbenz 1954, gegen Chiles Salvador Allende 1973, der Contra-Krieg gegen das | |
sandinistische Nicaragua in den 1980er Jahren – die Erfahrungen der | |
permanenten US-Interventionen gegen jeden Versuch fortschrittlicher | |
Regierungsführung in Lateinamerika sitzen so tief wie das antirussische | |
Misstrauen in Polen. | |
Und sie haben dazu geführt, dass der kubanische Weg – der einzige, der | |
selbst nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus den | |
Machterhalt einer linken Regierung gesichert hat – Vorbildcharakter | |
bekommen hat. Viele Linke, die mit dem autoritären Staatssozialismus | |
kubanisch-sowjetischer Machart nichts zu tun haben wollen, schweigen. | |
Die lateinamerikanische Linke braucht ein aktives, positives Verhältnis zur | |
parlamentarischen Demokratie. Die Erfahrungen der 1970er und 1980er Jahre, | |
als die Menschenrechtsbewegungen in vielen Ländern der Welt gegen die | |
Militärdiktaturen Lateinamerikas der wichtigste politische Ausdruck für die | |
Demokratie waren, kann doch nicht völlig in Vergessenheit geraten sein. Und | |
warum der sowjetische Staatssozialismus total zusammengebrochen ist, auch | |
nicht. | |
Wenn die Linke sich selbst und Venezuela einen Gefallen tun will, dann muss | |
sie die bedingungslose, blinde Solidarität mit der Regierung Maduro | |
aufgeben und auf die Beachtung demokratischer Spielregeln und die baldige | |
Abhaltung von Wahlen drängen. Ein Chavismus, der dabei keine Mehrheit mehr | |
hat, darf auch nicht regieren. Das Regierungsversagen zu verlängern, weil | |
die Opposition so schrecklich ist: Das ist keine Solidarität, schon gar | |
nicht mit den Menschen in Venezuela. | |
10 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernd Pickert | |
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