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# taz.de -- Abwegiger Hip-Hop: Querköpfe und Silbenzähler
> Das „Spektrum“-Festival, der Hoodie tragende kleine Bruder des „MS
> Dockville“, interessiert sich seit jeher für Grauzonen und Randbereiche
Bild: Kopfnicken im Wilhelmsburger Hafenambiente. Und bloß nicht die Gummistie…
Wenige Jahre ist es her, da steckte das „Spektrum“ noch in Gummistiefeln.
Als Ableger des großen Indie-Pop-Bruders „MS Dockville“ schickte man das
eintägige Festival mit dem Motto „Momentaufnahme Beatkultur“ ins Rennen.
Die Infrastruktur fiel in die Bauarbeiten des „Dockvilles“, die damals noch
spärliche Bühne bot man instrumentalen Hip-Hop-Experimenten, wie sie sonst
in kleinen Klubs von Los Angeles zu Hause waren. Und weil die Premiere in
die Hamburger Regenzeit fiel, wateten ein paar Hundert Hip-Hop-Heads durch
den Matsch, während sich die norddeutsche Rap-Expertise in den letzten
Reihen des Partyzeltes tummelte und ungläubig beäugte, was dort vor sich
ging: Man hatte allen Ernstes ein Hip-Hop-Festival ins Leben gerufen – und
dann auch noch eines, das sich anschickte, die Grenzen des oft so
engstirnigen Genres abzubauen.
Heute kaum mehr vorstellbar: Dieser Musik einen ganzen Festivaltag zu
widmen, war vor gerade mal sechs Jahren noch ein gewagtes Unterfangen.
Hip-Hop in Deutschland stand kurz vor einem zweiten Frühling, doch die
Independent-Strukturen, in denen sich kleinere Acts heute immer
selbstständiger bewegen, waren erst im Begriff ihrer Entstehung.
Aus dem sympathisch-chaotischen Liebhaber-Treff ist mittlerweile ein
Festival im klassischen Sinn gewachsen. Wenn einem das Spektrum heute
undurchsichtig erscheint, dann deshalb, weil man sich mal eben zwischen
zehntausend Menschen auf dem halbierten „Dockville“-Gelände wiederfindet.
In Hamburg ist es zur Hip-Hop-Institution geworden, kaum ein Fan braucht
sich noch auf die Reise in ferne Bundesländer zu begeben – die Helden der
Jugend spielen nun vor der eigenen Haustür, das Who’s who der deutschen
Rap-Szene gibt sich in Wilhelmsburg das Mikro in die Hand.
Mit steigendem Erfolg hat das Spektrum in den letzten Jahren ein Stück weit
seine Vielfalt eingebüßt. Die Frankfurter Gangstarap-Ikone Haftbefehl und
die schwedische Trip-Hop-Legende Neneh Cherry auf derselben Bühne? Detroits
Schreihals Danny Brown neben dem britischen Post-Dubstep-Duo Mount Kimbie?
Auf dem Spektrum war das nicht nur möglich, sondern Programm. Doch nach
fünf Ausgaben sind die elektronischen Grauzonen immer mehr zugunsten
hiesiger Rap-Stars gewichen. Dass sich das Spektrum auch heute noch
zwischen Rap-Tradition und Experiment bewegt, liegt vor allem daran, dass
sich Hip-Hop in Deutschland selbst verändert hat.
Ein Blick auf das diesjährige Line-up ist ein Querschnitt durch die Szene
und zeigt, wie wunderbar abwegig die Verflechtungen von Hip-Hop gerade
verlaufen. Brennende Benzinkanister und gebrochene Herzen sind der Stoff,
aus dem etwa die Lokalheldin Haiyti ihre Songs schöpft. Und die platziert
sie gleichermaßen auf brachialen Trap-Beats wie auf klebrigem
Synthesizer-Kitsch. Mit dem sächsischen Kollegen Trettmann teilte Haiyti in
der Vergangenheit schon Bühne und Studio. Sein Sound aber ist im Dancehall
zu Hause und schreckt nicht davor zurück, unter Einsatz von Autotune,
dieser lange verschrieenen Stimmkorrektur-Software, auch mal eine
erstklassige Ballade zu zaubern. Die Grenzen zwischen Rap und Gesang weicht
auch Rin immer weiter auf. Auf den vergangenen Hip-Hop-Festivals dieses
Sommers bewies sich der Anfangzwanziger als Hype des Jahres. Und sein
kommendes Album schickt sich an, Deutschrap mit viel Gefühl und ungeahnter
Tanzbarkeit neu zu denken.
Wer die klassischere Lyrik im Rap schätzt, widmet sich den bitter
ehrlichen, autobiografischen Anekdoten von Chima Ede und lässt sich von dem
Berliner zum Silbenzählen herausfordern. Oder man verrennt sich in dem
Versuch, dem Querkopf Edgar Wasser in seinen Geschichten zu folgen, die so
bilderreich wie absurd dem Deutschrap nicht selten den Spiegel vorhalten.
Auch die vermeintlichen Rap-Misanthropen Audio88 & Yassin bieten
Reibungsfläche: Ihre Songs sind scharfe Gesellschaftsbeobachtung mit
wahnwitziger Ironie und Humor, so schwarz wie eine Raucherlunge im
fortgeschrittenen Alter.
Dass die „Beatkultur“ mit dem Wachsen des Spektrums auf die Nebenbühne
auswich, konnte man in den letzten Jahren bedauern. Dafür fällt auf: Zum
ersten Mal kommt das Beat-Geschehen ohne internationale Hilfe aus – gibt
sich deswegen aber nicht weniger divers. Mit Lex Lugner und Die Achse
stellt sich die Hip-Hop-Produzenten-Avantgarde der Stunde unter Beweis.
Asadjohn wiederum ist nicht nur Produzent hinter Hits von Rapperin Haiyti,
sondern auch ein begnadeter DJ, der das aktuelle Afrobeats-Geschehen aus
London und Paris mit kompromisslosem US-Rap-Zeitgeist kreuzt. Soul und
Elektronik gehören für Tereza in ein und denselben Mix wie Rap-Hits aus dem
Jetzt; ihre DJ-Sets sind aufgelegte Soundcloud-Expertise und tanzbares
Nerdtum. Sarah Farina wiederum ist Expertin für basslastigen Uptempo-Sound
und mixt Genres so innovativ, dass sie die Wochenenden in den Klubs quer um
den Globus verbringt.
Während sich das Spektrum in Stringenz übt, indem es Hip-Hop aus
Deutschland die Bühne überlässt, weichen sich dessen einst so strengen
Genregrenzen immer weiter auf. Bis der feste Grund nur noch Matsch ist –
Gummistiefel einpacken!
5 Aug 2017
## AUTOREN
Wenzel Burmeier
## TAGS
Deutscher Hip Hop
HipHop
USA
Hamburg
Neues Album
Rapper
Feine Sahne Fischfilet
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