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# taz.de -- Debatte Sozialdemokraten im Wahlkampf: Zu zahm für Gerechtigkeit
> Martin Schulz und die SPD überzeugen nicht, weil ihrem Programm der Mut
> fehlt. Etwa für die Beibehaltung des Soli und eine Vermögensteuer.
Bild: Ist die SPD so zahm wie dieses Katzenbaby?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird nicht müde, in seinen Reden
„mehr Mut“ von den Bürgerinnen und Bürgern des Landes zu verlangen. Bei
vielen Sozialdemokraten wächst angesichts des Zögerns und Zauderns ihrer
Parteispitze jedoch die Wut, lassen ihre Partei und deren Kanzlerkandidat
Martin Schulz doch Mut im Wahlkampf weitgehend vermissen.
Im Kernbereich der Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik wirkt die Partei
trotz einiger guter Ansätze im „Zukunftsplan“ ihres Vorsitzenden sogar
ausgesprochen wankelmütig. Schulz wirft Angela Merkel eine politische
Einschläferungstaktik („asymmetrische Demobilisierung“) im Wahlkampf vor �…
ohne selbst zündende Ideen dafür zu haben, wie man den Umfrage-Rückstand
gegenüber CDU und CSU wettmachen kann.
Völlig zu Recht weisen die SPD und ihr Kanzlerkandidat auf riesige
Investitionslücken hin und möchten etwaige Haushaltsüberschüsse für die
Reparatur und den Ausbau der sozialen Infrastruktur (öffentliche
Kinderbetreuungseinrichtungen, Bildungssystem, Gesundheitswesen und
dergleichen mehr) verwenden. „Vorfahrt für Investitionen“ wird dies im
Wahlprogramm genannt, das die Genossen auf dem Dortmunder Parteitag im Juni
unter dem Titel „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit: Zukunft sichern,
Europa stärken“ verabschiedet haben.
Die Lage im Land verlangt nach politischen Lösungen: Da können immer
weniger Grundschüler schwimmen, weil allein im vergangenen Jahr mehr als
100 Badeanstalten geschlossen wurden und der Schwimmunterricht
buchstäblich ins Wasser fällt. Wie dieses banale Beispiel zeigt, können
sich nur reiche Menschen, die einen eigenen Swimmingpool zu Hause haben,
einen armen Staat leisten.
## Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche zur Kasse, bitte!
Deutschland braucht daher nicht „die größte Steuersenkung aller Zeiten“ (…
lautete jüngst eine Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten und
CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer), sondern das größte Investitionsprogramm
aller Zeiten.
Seine bisher wichtigste Wahlkampfrede begann und beendete der
sozialdemokratische Kanzlerkandidat Martin Schulz mit dem einprägsamen
Satz: „Deutschland kann mehr.“ Ob es klug ist, die nationale Karte zu
spielen, wenn man Europa und die Solidarität unter den EU-Mitgliedstaaten
stärken will, sei dahingestellt. Auf gar keinen Fall aber reicht es aus,
die vorhandenen Investitionsdefizite zu benennen, ohne überzeugende
Finanzierungskonzepte vorzulegen.
Wer die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen nicht erheblich stärker als
durch Anhebung des Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer von 42 auf 45
Prozent beziehungsweise der sogenannten Reichensteuer von 45 auf 48 Prozent
zur Kasse bitten will, kann die enormen Kosten für eine beitragsfreie
Bildung von der Kita bis zur Uni schwerlich schultern.
Mit seinem Vorschlag, allen Heranwachsenden am Beginn ihres Erwerbslebens
ein „Chancenkonto“ (in nicht genannter Höhe) zu finanzieren, konterkariert
Martin Schulz den richtungweisenden Ansatz einer Ankurbelung der
öffentlichen Investitionen: Entweder investiert der Staat und schafft gute
Lern- und Arbeitsbedingungen für alle.
## Gerechtigkeits-Leitmotiv steht auf tönernen Füßen
Oder er überlässt es den einzelnen Individuen und unterstützt sie höchstens
finanziell dabei, mittels ausreichender Geldmittel die eigenen Startchancen
zu verbessern. Beides zusammen würde den Bundeshaushalt überfordern, zumal
die SPD kaum neue Finanzquellen erschließt.
Hatten sie im letzten Bundestagswahlkampf noch die Wiedererhebung der
Vermögensteuer und ihre Anhebung „auf ein angemessenes Niveau“ gefordert,
fehlt dieser Vorschlag im aktuellen Steuerkonzept der Sozialdemokraten
ganz.
Wer die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich schließen will, muss
aber vor allem die sich in wenigen Händen konzentrierenden Vermögen
besteuern. Ohne mehr Steuergerechtigkeit steht das Gerechtigkeits-Leitmotiv
der Kampagne von Martin Schulz auf tönernen Füßen.
## Gering- und Normalverdiener nur wenig vom Soli-Wegfall
Anstatt der Union vorzuwerfen, den Solidaritätszuschlag trotz gegenteiliger
Bekundungen gar nicht abschaffen zu wollen, wie das Martin Schulz tut,
sollte die SPD ihrerseits am „Soli“ festhalten. Denn anders als es
Spitzenpolitiker aller etablierten Parteien behaupten, würden durch seine
Abschaffung nicht „Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen“ entlastet.
Geringverdiener hätten vielmehr gar nichts und Normalverdiener wenig vom
Wegfall des „Soli“, weil dieser bei einem Single erst oberhalb eines
Monatsverdienstes von 1.500 Euro und bei einem Ehepaar mit zwei Kindern
erst bei einem Monatseinkommen von über 4.000 Euro anfällt.
Wer würde am meisten von einer Abschaffung des Solidaritätszuschlages
profitieren? Diejenigen, die eine Entlastung am wenigsten nötig haben:
Hochvermögende und große Konzerne. Denn der Soli wird nicht bloß als
Ergänzungsabgabe auf die Einkommensteuer, sondern auch auf die
Kapitalertrag- und die Körperschaftssteuer erhoben.
Selbst wenn die Vereinigung von BRD und DDR die Erhebung des
Solidaritätszuschlags verfassungsrechtlich irgendwann nicht mehr
rechtfertigen würde, wie die SPD irrtümlicherweise meint, bleibt die
Forderung des Grundgesetzes nach Herstellung gleichwertiger
Lebensverhältnisse unerfüllt.
## Großoffensive gegen Kinderarmut überfällig
Dies gilt etwa für über zwei Millionen Kinder und Jugendliche, die in oft
„Hartz-IV-Familien“ genannten Bedarfsgemeinschaften nach dem
Sozialgesetzbuch II aufwachsen und sich in bestimmten Regionen, etwa in
Berlin, im Ruhrgebiet sowie in Bremen und Bremerhaven konzentrieren.
Längst ist eine Großoffensive gegen Kinderarmut überfällig, deren Kosten
über eine solche Ergänzungsabgabe finanziert werden könnten. Man sollte den
mit einigen Unterbrechungen seit 1991 in unterschiedlicher Höhe (heute: 5,5
Prozent) erhobenen Solidaritätszuschlag für die Armutsbekämpfung umwidmen.
Damit würden abgehängte Regionen in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen
befähigt, ihre soziale und Bildungsinfrastruktur so weit zu entwickeln,
dass die dort extrem hohe Kinder- und Jugendarmut sinkt.
Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen und
ausreichend Freizeitangebote vorhanden sind, kann verhindert werden, dass
ein Großteil der nachwachsenden Generation perspektivlos bleibt.
7 Aug 2017
## AUTOREN
Christoph Butterwegge
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