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# taz.de -- Big Data und Überwachung in China: Ihr werdet schon sehen
> Kein Land ist so avanciert, wenn es um Datennutzung geht – inklusive der
> Verknüpfung diverser Datenbanken. Die Regierung hat Zugriff.
Bild: Missbrauch ist möglich
Hongkong taz | Eine gerade noch verhinderte Tragödie in der quirligen
chinesischen Geschäftsmetropole Shenzhen verweist auf die Chancen von Big
Data – und muss zugleich als Warnung vor der ungeheuren Macht dienen, die
mit dieser Datenfülle verbunden ist.
Am 26. Januar gegen 16 Uhr betritt ein Mann die Polizeiwache des Shenzhener
Bezirks Longgang, um seinen dreijährigen Sohn als vermisst zu melden. Das
Kind, fürchtet er, ist von Kinderhändlern entführt worden – ein
verbreitetes und schreckliches Problem in China, wo Schätzungen zufolge
jedes Jahr zehntausende Kinder gekidnappt und verkauft werden.
Die Polizei wird sofort aktiv. Sie besorgt sich Videoaufzeichnungen einer
Überwachungskamera. Darauf ist eine Frau in mittleren Jahren zu sehen, die
mit dem Jungen weggeht. Mithilfe eines Gesichtserkennungsprogramms
„stellten sie die Identität (der Frau) fest“, berichten [1][chinesische
Medien später]. Die Behörden finden heraus, dass die Frau einen Zug in
Richtung der Stadt Wuhan bestiegen hat; der Polizei gelingt es, sie bei der
Ankunft festzunehmen – und das Kind zu retten.Von der ersten
Vermisstenmeldung bis zur sicheren Übernahme des entführten Kindes vergehen
nur 15 Stunden.
Zusammen mit den Eltern können wir nun einen Seufzer der Erleichterung über
das glückliche Ende ausstoßen. Gleichzeitig aber sollten wir zwischen den
Zeilen lesen – und das immense Missbrauchspotenzial erkennen, das im 21.
Jahrhundert in dem riesigen Datenpool liegt, der für Informationen über
alle und jeden von uns ausgeschöpft werden kann. Auf diese Weise können
Verbrecher bloßgestellt werden – aber auch wir.
## So schnell, so unkontrolliert
China ist in vieler Hinsicht führend darin, Big Data und intelligente
Maschinen im Feld der Strafverfolgung und Sozialkontrolle anzuwenden. Was
die oben erwähnte Erfolgsgeschichte uns auch sagt: Örtliche
Polizeistationen können in China nicht nur auf Überwachungskameras in
Wohngebieten und an anderen Orten zugreifen. Sie können sich zudem in die
nationalen Melderegister einloggen – und diese werden dann unverzüglich mit
Daten über Fahrkarten- und andere Einkäufe verknüpft, für die man in China
seinen Ausweis zeigen muss.
Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs. China nutzt den Zugriff auf
Big Data inzwischen, um alle möglichen Probleme zu lösen, und verrät damit
einen gefährlichen Glauben an die befreiende Kraft der Technologie. Das
geschieht zudem ohne jedwede öffentliche Diskussion darüber, wie die als
Fortschritt empfundene Entwicklung – unter dem allgegenwärtigen Auge der
staatlich kontrollierten Datenmaschinerie – zur Falle für die Bürger werden
könnte.
China steht gewiss nicht allein bei der Entwicklung solcher Technologien.
Einzigartig aber ist die Art und Weise, wie sie gegenwärtig bereits genutzt
werden: schnell und ohne jegliche Kontrolle durch die Öffentlichkeit.
Im April dieses Jahres hat die Firma Intellifusion, deren
Gesichtserkennungsprogramm hinter dem Aufspüren der Kindesentführerin von
Shenzhen steckte, zusammen mit der Verkehrspolizei der Metropole ein neues
System eingeführt. Dieses [2][ertappt Fußgänger], die beim Überqueren der
Straße gegen Verkehrsregeln verstoßen. Das System, das sich auf die
Gesichtserkennungstechnologie stützt, speichert offenbar die Daten von
Fußgängern und kann Wiederholungstäter augenblicklich identifizieren.
Die Shenzhener Verkehrspolizei erprobt auch die Anwendung von
Geräuscherkennungstechnologie, die dabei helfen soll, das zu bekämpfen,was
die [3][China Daily ] den „ärgerlichen Missbrauch der Autohupe im dichten
Verkehr“ nennt. Mit der neuen Technologie kann das störende Gefährt aus der
Menge herausgefiltert werden, dann wird sowohl das Autokennzeichen als auch
der Fahrer gefilmt. Dem flattert alsbald die überraschende Mitteilung ins
Haus, dass er ein Bußgeld von umgerechnet 65 Euro zahlen soll.
## Pre-Crime-Technologie
Begeistert berichtete der Mitbegründer und Firmenchef von
[4][Intellifusion, Chen Ning, vor einiger Zeit in einem Interview] von
seinem neuen Projekt: Das Unternehmen sei gerade dabei, Technologien zu
entwickeln, die kriminelle Taten vorhersagen können. „Einige Kunden, die
das System der Intellifusion-Technologie besser verstehen lernen,
interessierten sich für ein Konzept aus der Science-Fiction: Verbrechen
vorherzusehen“, sagte Chen.
„Vor ein paar Monaten haben wir begonnen, uns mit diesem Thema zu
beschäftigen: Dabei geht es grundsätzlich darum, Hinweise aus den Big Data
zu gewinnen und dann eine gewisse Zahl an Verhaltensparametern festzulegen.
Tatsächlich sind wir schon jetzt zu einem gewissen Grad in der Lage,
Voraussagen über das Verhalten von Leuten zu machen.“
Das Werbeversprechen, das Intellifusion auf seiner Webseite macht, fasst
die utopische Firmenvision von künstlicher Intelligenz und Big-Data-Analyse
zusammen: „Wir schaffen Himmelsaugen- (Überwachungs-) Systeme wie in der
Science-Fiction und machen es damit möglich, die Städte mit einem Gefühl
der Sicherheit zu erfüllen“, heißt es dort. Weitreichender noch ist die
Vision der chinesischen Regierung und ihres Sicherheitsapparats, die
bereits zielstrebig daran arbeiten, Big Data zu nutzen, um ein umfassendes
nationales System der „sozialen Vertrauenswürdigkeit“ zu schaffen.
Gemeint ist ein Punktesystem, nach dem bis 2020 alle Bürger auf Basis
weitreichender Datenparameter bewertet werden sollen: Wofür sie ihr Geld
ausgeben, wird darin ebenso erfasst wie ihr persönliches Verhalten (bei Rot
weiterfahren oder zu laut hupen) und, wie sie sich im Internet und in den
sozialen Medien bewegen.
## Behörden und Privatwirtschaft kooperieren intensiv
Nach dem Plan, der zuerst im Jahr 2014 bekannt wurde, wird die
„Vertrauenswürdigkeit“ der Bürger in vier Bereichen bewertet:
Geschäftsgebaren, Gesetzestreue, verwaltungstechnische Angelegenheiten und
Sozialverhalten. Der Aufbau dieses Systems beschleunigte sich im Jahr 2016
weiter: Da verständigten sich 40 Institutionen – einschließlich der
Polizei, der Gerichte, der Land- und Transportministerien, dem
Eisenbahnministerium und der People’s Bank of China – auf einen
weitreichenden Austausch ihrer Informationen über die Bürger. Was das
bedeutet, zeigt ein Fall, der kürzlich bekannt wurde: Einem Bewohner
Shenzhens wurde [5][der Kauf eines Flugtickets] verwehrt, weil sein Vater
einen Kredit seiner Firma nicht zurückgezahlt hatte. Der Sohn besaß Anteile
an der Firma.
Immer mehr Privatfirmen schließen sich dem Vormarsch des
Informationsaustauschs an. Im April unterzeichneten [6][zehn
Fahrradverleihunternehmen] in China die Übereinkunft, Informationen über
ihre Nutzer mit der Nationalen Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC) zu
teilen. Diese Behörde setzt den Rahmen für wirtschaftliche und soziale
Entwicklung Chinas. Sie ist hauptverantwortlich für den Ausbau des Systems
der „sozialen Vertrauenswürdigkeit“.
Wie man sich beim Fahrradparken benimmt oder fehlverhält, zählt dann
schlicht als zusätzlicher Datenpunkt im chinesischen Universum sozialer
Vertrauenswürdigkeit. Die [7][Stadt Shenzhen hat bereits 2016 angekündigt],
illegales Abstellen von Fahrrädern mit dem Punktesystem der sozialen
Vertrauenswürdigkeit zu verknüpfen. Die Daten der Fahrradverleiher könnten
Teil dieses Planes sein.
## „In jedermanns Interesse“
Erst kürzlich erklärte ein NRDC-Funktionär wieder, ein nationales System
der sozialen Vertrauenswürdigkeit sei [8][in jedermanns Interesse]. Die
Staatsmedien bekräftigen regelmäßig die moralische Dimension dieser
technologiegetriebenen Initiativen. Es gehe darum, eine „Kultur der
Ehrlichkeit“ zu schaffen.
Über allem jedoch steht das Interesse der Regierung. Der [9][vor drei
Jahren veröffentlichte nationale Rahmenplan] macht das Ziel dieser
Strategie klar: Neben dem Aufbau einer „sozialistischen Marktwirtschaft“
geht es darum, „soziale Harmonie und langfristigen Frieden und Stabilität
der Nation“ zu erreichen.
Aber wie kann man sicherstellen, dass ein von der Regierung entworfenes und
gelenktes System, das Wohlverhalten verlangt, integer ist? Wenn doch die
Regierung, die dieses System durchsetzt, selbst nicht der Kontrolle der von
ihr überwachten Bürger unterworfen ist?
Man kann es nicht. Auf dem Schwarzmarkt werden offenbar schon jetzt höchst
private Informationen aus den Datenbanken der Regierung und Polizei
angeboten, wie der ungewöhnlich offene [10][Investigativbericht] einer
chinesischen Zeitung zeigt. Das lässt den Schluss zu: Sobald Wohlverhalten
digitalisiert ist – wird es auch käuflich.
Das also ist Chinas Antwort auf diese grundsätzlichen Fragen, die sich den
Bürgern des 21. Jahrhunderts stellen: Beobachtet uns. Ihr werdet schon
sehen.
David Bandurski ist Kodirektor des China Media Project in Hongkong und
Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy.
24 Jul 2017
## LINKS
[1] http://www.bjnews.com.cn/invest/2017/05/25/444628.html
[2] http://www.straitstimes.com/opinion/chinas-all-seeing-surveillance-state-is…
[3] http://www.chinadaily.com.cn/china/2017-04/19/content_28989116.htm
[4] http://www.iyiou.com/p/40606
[5] http://asia.nikkei.com/Politics-Economy/Policy-Politics/China-s-social-cred…
[6] http://www.sixthtone.com/news/1000117/national-credit-system-puts-bike-shar…
[7] http://www.chinadaily.com.cn/china/2016-12/29/content_27807614.htm
[8] http://news.xinhuanet.com/english/2017-06/23/c_136390057.htm
[9] http://www.gov.cn/zhengce/content/2014-06/27/content_8913.htm
[10] http://supchina.com/2017/01/03/cashing-in-on-dystopia/
## AUTOREN
David Bandurski
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