# taz.de -- Die Wahrheit: Der Milchstein-Nachlass | |
> Die Wohnung war groß, voller rätselhafter baulicher Zustände und gespickt | |
> mit seltsamen Mitteilungen. Eines Tages machte ich mich auf den Weg … | |
Außer mir gab es noch einen zweiten Mieter der Wohnung, einen älteren | |
Herrn, den ich nie zu Gesicht bekam. Die große Distanz zwischen unseren | |
Wohnbereichen verhinderte auch, dass ich ihn je hörte. Doch lag dies nicht | |
allein an der Entfernung. Zusätzlich wirkten die zahllosen Schränke und | |
Regale, Kommoden und Wandstücke, die ein labyrinthartiges Gefüge aus | |
Zimmern und Gängen entstehen ließen, stark schallabsorbierend. | |
Eigentümlich war der Umstand, dass nicht die erwähnten Aufbewahrungsmöbel | |
an vorhandene Wände gestellt, sondern dass offenbar Wandabschnitte hinter | |
die Möbel gemauert worden waren. Für mich sah es kaum so aus, als ob dabei | |
ein Plan zugrunde gelegen hätte, doch ich war nie ein guter Beobachter. | |
Oft hingen morgens Zettel in meinem Wohnbereich, auf denen rätselhafte | |
Mitteilungen standen wie „Die Behauptungen über Milchstein müssen | |
aufhören.“ Es bestand die theoretische Möglichkeit, dass der ältere Herr am | |
entgegengesetzten Ende der Riesenwohnung heimlich herüberkam, wenn ich | |
schlief, und die Zettel aufhängte. | |
Um Klarheit zu schaffen, wollte ich ihn darauf ansprechen. Eine vorherige | |
Terminabsprache hielt ich für Zeitverschwendung, deshalb musste ich in Kauf | |
nehmen, eventuell zur Unzeit bei ihm zu erscheinen. Um dieses Risiko zu | |
verringern, wählte ich eine möglichst unverfängliche Uhrzeit für meinen | |
Besuch. Der Weg war weit, die Gefahr, mich zu verirren und nicht mehr | |
zurückzufinden, beträchtlich. | |
Schließlich erreichte ich mein Ziel. Ich traf den etwa siebzigjährigen Mann | |
hinter seinem Schreibtisch sitzend an. Er hieß mich Platz nehmen und | |
erzählte mir unaufgefordert, er züchte Tauben in der Wohnung. Das erstaunte | |
mich, denn es war wohl zu erwarten, dass die Vögel dann auch zu mir | |
hinüberfliegen würden. Ich hatte jedoch niemals das Geringste davon | |
mitbekommen. | |
„Eine Taube zu besitzen“, sprach der Mann, „bedeutet, dreimal am Tag | |
Unglück zu haben: morgens, mittags und abends.“ Sein negatives Urteil über | |
Tauben hinderte ihn indes nicht, mich zu tadeln, als ich eine verscheuchte, | |
die sich dreist auf dem Schreibtisch niederließ. Unter solchen Umständen | |
fand ich es nicht passend, die Zettel zu erwähnen. Daher stand ich leise | |
auf und wandte mich den sich auf einem Beistelltisch türmenden Fotoalben, | |
Mappen und Aktenordnern zu. „Das ist der Milchstein-Nachlass!“, rief mir | |
der ältere Herr zu, „den müssen Sie sich ansehen!“ | |
Es war ein großer Nachlass, den ich nun zu sichten begann. Er bestand aus | |
Korrespondenzen, Fotografien, Rechnungen und Kontoauszügen – sehr imposant. | |
Beim Durchblättern der Fotoalben gewann ich den Eindruck, eine auf | |
zahlreichen Bildern zu sehende Frau müsse eine wichtige Rolle im Leben des | |
Herrn Milchstein gespielt haben. Nur zu gern hätte ich Näheres über die | |
Frau erfahren, doch gerade als ich es wagte, den Mann am Schreibtisch nach | |
ihr zu fragen, kam die Nachricht, im Louvre sei eine Großspende aus Holz | |
für mich eingetroffen. | |
11 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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