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# taz.de -- Die Wahrheit: Lesung eines zerstreuten Dichters
> Von hinten grob in den überraschend dunklen Saal hineingestoßen,
> vollzogen sich dort bizarre Auswüchse. Der Fluchtweg zur Tür war
> verstellt.
Da mir nach dem Abendessen der Sinn nach etwas Zerstreuung stand, suchte
ich das neue Kulturzentrum auf. An der Tür zum Mehrzwecksaal hing ein Blatt
Papier, auf dem geschrieben stand: Heute Dichterlesung. „Um Himmels willen,
nur das nicht“, hätte ich fast laut ausgerufen. Ich wollte schnell zur Bar
weitergehen, doch da fühlte ich mich von hinten grob in den überraschend
dunklen Saal hineingestoßen.
Beim Vorwärtstaumeln hatte ich den undeutlichen Eindruck, die Stuhlreihen
seien allesamt voll besetzt. Mühsam tastete ich mich an den Reihen entlang
und glaubte, auf den Stühlen lauter kopflose Figuren sitzen zu sehen.
Endlich ganz vorn angelangt, zog mich jemand auf den freien Stuhl neben
sich. Totenstill war es im Raum, niemand schien auch nur zu atmen. Auf der
Bühne wurde eine Lampe eingeschaltet, die einen kleinen Tisch beleuchtete,
hinter dem ein hagerer junger Mann saß, vermutlich der Dichter.
In meiner Erwartung, er werde nun mit seiner Lesung beginnen, sah ich mich
getäuscht, stattdessen fing er an, hemmungslos Grimassen zu schneiden.
Binnen kürzester Zeit nahmen dieselben eine furchtbare Qualität an – es
konnte bald kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der Mensch sich
tatsächlich veränderte. Nach einigen grotesken Vorstufen hatte er das
Aussehen eines widerlichen dicken Kerls mit Styropor im Mund.
Zu allem Überfluss erhob er sich sodann vom Stuhl, um albern um den Tisch
herumzutanzen. Er lachte unbändig, schlug sich selbst auf den Kopf und
lachte daraufhin noch mehr. Vor Lachen trieb er absonderliche Körperformen
aus, verzerrte Wülste, Verlängerungen und Verdickungen.
Links neben mir stieß mich etwas an, und beim Hinsehen musste ich
feststellen, dass mein Sitznachbar ebenfalls bizarre Auswüchse kultivierte.
Die Person auf meiner rechten Seite hatte ich bisher nicht anzusehen
gewagt, jetzt tat ich es und erschrak zutiefst. Was ich erblickte, war kein
menschliches Wesen. Vielmehr räkelte sich auf der Sitzfläche eine formlose,
unselig pulsierende Masse von beträchtlichem Volumen. Angewidert sprang ich
auf und richtete hilfesuchend den Blick auf die Sitzreihen.
Das sich mir Darbietende ließ mich aufschreien. Ich kann und will es an
dieser Stelle nicht näher beschreiben, weil sonst die Seelenruhe der
Leserschaft unweigerlich Schaden nähme. Mir war augenblicklich klar: Hier
half nur eilige Flucht.
Wie ich jedoch bekümmert zur Kenntnis nehmen musste, war mir der Fluchtweg
zur Tür verstellt. Unirdisch ekles Riesengewürm wälzte sich schlürfend
heran und drohte mich binnen Sekunden zu erreichen. In meiner äußersten Not
gewahrte ich ein am Boden liegendes Kanalisationsrohr, dessen Durchmesser
ausreichte, um einen Erwachsenen aufzunehmen. Ohne nachzudenken, kroch ich
hastig hinein und entkam mit knapper Not. Am anderen Ende des Rohrs
erreichte ich eine ganz andere Welt, in der ich mir später als Opfer von
Realitätsstrahlen einen Namen machte.
16 Jun 2017
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Literatur
Lesung
Parallelgesellschaft
Groteske
Familie
Miete
Erinnerung
Kreativität
Hochzeit
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