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# taz.de -- Die Wahrheit: Das Kabel im Ärmel
> Ich konnte mich nicht erinnern, was vor meiner Ohnmacht geschehen war.
> Ebenso wenig wusste ich, was sie überhaupt verursacht hatte.
Als ich wieder zu mir kam, war der Couchtisch vor mir mit
elektrotechnischem Kram übersät wie bei einem Radiobastler. Außerdem lag da
ein sogenanntes Frühstücksbrett aus hellem Holz, in dem ein dünnes, langes
Kabel steckte. Ich fragte mich, wo das andere Ende des Kabels sein mochte,
und folgte mit den Augen seinem Verlauf.
Es dauerte eine Weile, bis ich staunend feststellen musste, dass es in den
rechten Ärmel meines Pullovers führte. Jemand musste es hineingeschoben
haben, während ich ohnmächtig gewesen war. Oder vielleicht schon vorher?
Ich konnte mich nicht erinnern, was vor meiner Ohnmacht geschehen war,
ebenso wenig wusste ich, was sie überhaupt verursacht hatte. Mit Sicherheit
aber wünschte ich kein Kabel in meinem Ärmel. Als ich es herausziehen
wollte, bemerkte ich deutlichen Widerstand.
Irgendwo musste es befestigt sein, doch offenbar nicht an meinem Körper,
denn das hätte ich beim Ziehen spüren müssen. Beunruhigt suchte ich mit den
Händen meine Kleidung ab. Es schien, als verlöre sich das Kabel in den
Textilfalten, sein Ende ließ sich nicht finden. Das Einzige, was mir noch
übrig blieb, war, den Pullover auszuziehen und gründlich zu überprüfen.
Doch momentan überforderte mich diese Aufgabe. Rat- und kraftlos ließ ich
mich gegen das Rückenpolster der Couch zurückfallen. Ich musste nachdenken.
Was war zuletzt gewesen, bevor ich das Bewusstsein verloren hatte? Meine
mentalen Bemühungen glichen in etwa den körperlichen Anstrengungen eines
unter Obstipation leidenden Menschen.
Ich versuchte mir meine Lebensverhältnisse ins Gedächtnis zu rufen. Vor
etwa sechs Wochen war ich in dieses Haus gezogen, so viel stand fest. Die
Vermieterin hatte mir in groben Zügen die Nachbarschaft erklärt: „Das
einzig Aufregende weit und breit ist hier die Straßenlaterne. Und im Louvre
können Sie nachts bequem Großspenden aus Holz annehmen.“ Bei der nächsten
Gelegenheit aber hatte sie im Brustton der Überzeugung dementiert: „Es wäre
übertrieben zu behaupten, im Louvre könne man nachts bequem Großspenden aus
Holz annehmen.“ Ich fand, dass es insgesamt zu viel Ungewissheit in meinem
Leben gab.
Da betrat unversehens jemand den Raum – die Vermieterin! „Es ist Zeit“,
sagte sie zu mir, „wir müssen gehen.“ Morgens pflegten wir wegen des
Kuh-Orakels immer den Bauernhof aufzusuchen. Automatisch erhob ich mich von
der Couch. Halt, dachte ich, das Kabel! Ich kann doch gar nicht mitgehen.
Die Vermieterin sah mich streng an. „Was haben Sie denn da?“, fragte sie
und zog kopfschüttelnd das Kabel aus meinem Pulloverärmel. Es ging ganz
leicht und schmerzlos. „Los jetzt“, insistierte die Vermieterin. Dann
gingen wir zum Bauernhof am Ende der Straße. Der Zweck unseres
allmorgendlichen Besuchs bestand in der Deutung der Zeichen und Buchstaben,
die über Nacht auf dem Fell einer weißen Kuh zu entstehen pflegten. Ich war
erleichtert, dass mich der normale Alltag wiederhatte.
11 May 2017
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Erinnerung
Familie
Literatur
Kreativität
Hochzeit
Groteske
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