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# taz.de -- Die Wahrheit: Essen bei Branz
> Ein merkwürdiges Wesen geistert durchs Esszimmer. Aber Essen bringt es
> keines. Wo doch der Hunger so dringend gestillt werden will.
Aus finanziellen Gründen hatte ich eine Stellung als Zeichenlehrer an einer
Privatschule angenommen. Die Schüler hassten mich, und gleich am ersten Tag
wurde mir klar, dass nie darüber geredet worden war, wo ich etwas zu essen
bekommen konnte. Weil ich sehr hungrig war, beschloss ich, den Direktor zu
fragen. Hinter der Tür zu seinem Büro wurde mit Geschirr geklappert. Ich
klopfte an. „Jetzt nicht!“, bellte es von drinnen.
Ich beschloss, in den Ort zu gehen und im Wirtshaus zu essen. Als ich
soeben das Gebäude verlassen wollte, wurde im Parterre eine Tür geöffnet
und mein Kollege Branz sah heraus. „Haben Sie eigentlich schon was
gegessen?“, fragte er mich. Ich schilderte ihm meine Lage. „Na, dann kommen
Sie doch zu mir“, lud Branz mich ein, „bei mir gibt es gleich Abendessen.“
Ich nahm dankend an und folgte ihm in seine Wohnung.
Wir nahmen am Tisch im Esszimmer Platz. Branz schenkte Weißwein ein, wir
stießen auf meinen Eintritt ins Institut und eine künftige gute
Zusammenarbeit an. Die Zeit verging. Mir knurrte der Magen, doch nichts
geschah. Endlich schien es auch Branz zu lange zu dauern.
„Gretchen!“, brüllte er auf ganz rohe Weise. „Wo bleibt, verdammt noch m…
das Essen?“ Der ungnädige Umgangston, in den Branz einer Frau gegenüber
verfiel, störte mich, doch blieb mir nicht viel Zeit, mich mit solchen
Empfindungen auseinanderzusetzen, denn es ereignete sich etwas, von dem ich
nie gedacht hätte, dass es sich ereignen könnte. Etwas kam flink ins Zimmer
gelaufen und schoss unablässig zwischen Tisch, Anrichte und Tür hin und
her, ohne irgendeinen Sinn dieses Tuns erkennen zu lassen.
Höchstens einen halben Meter groß war das Phänomen und mit einem grauen
Tuch verhüllt. Offenbar besaß es keinen Kopf. Der höchstgelegene Punkt des
Körpers war die Schulterpartie. Kurze dünne Ärmchen waren vorwärts in den
Raum gestreckt, am anderen Ende, unterhalb des Tuchsaums, bewegten sich
kleine Füße, ob mit Schuhen oder ohne, war nicht zu unterscheiden. Was
mochte es nur sein, das da mutwillig im Zimmer umhersauste?
Auf eine Erklärung hoffend, sah ich den Gastgeber an. Dessen Gesicht war
grau geworden und verriet eine enorme innere Anspannung. Nach Kräften
schien er sich darauf zu konzentrieren, das ihm unliebsame Geschehen zu
ignorieren, geradezu als ob er versuchte, mit seinem gewaltsamen Leugnen
die Präsenz der Erscheinung auch aus meinem Bewusstsein zu tilgen.
Schließlich ächzte er: „Ich glaube, das wird heute nichts mit dem Essen.
Verhungern kann man in diesem Haus!“
Es gab keinen Grund, länger am Schauplatz solcher Possen zu bleiben, daher
erhob ich mich von meinem Platz. Ich hatte den Eindruck, dass Branz nichts
davon mitbekam. Der Blick des Mannes war starr, sein Bart wirkte wie
angeklebt. Unterdessen zog das winzige, kopflose Ding weiter fliegenhaft
seine Bahnen. Es war nicht auszuhalten. Ich sah zu, dass ich hinauskam.
Inzwischen war es früher Abend, und ich musste endlich etwas Anständiges
essen.
19 Jan 2017
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Groteske
Hunger
Erinnerung
Kreativität
Hochzeit
Begehren
Autoren
Familie
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