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# taz.de -- Die Wahrheit: Familie mit dunklem Fleck
> An der Wohnzimmerwand wächst etwas zu bedrohlicher Größe heran. Dann
> kommen Wesen durch die Wand und erzählen von einer dunklen Zeit.
Der dunkle Fleck an meiner Wohnzimmerwand nahm deutlich an Größe zu. Da mit
so etwas nicht zu spaßen ist, bat ich eine handwerklich erfahrene Freundin
um Rat. Sie meinte, es sei jedenfalls kein Schimmelpilz. „Was soll es denn
dann sein?“, wollte ich wissen, bekam aber keine befriedigende Antwort.
Während der Fleck weiterwuchs, zeigte ich ihn noch ein paar anderen
Menschen, die aber allesamt keine Erklärung dafür hatten. Schließlich
begann die Wand sich an der befallenen Stelle etwas vorzuwölben.
Zu jener Zeit verlangte es mich stark, gewisse mir unbekannte Details der
eigenen Familiengeschichte zu erfahren. Zum Beispiel wusste ich nicht, auf
welche Weise meine Eltern einander kennengelernt hatten und ob ich
tatsächlich in der Waschküche eines Privathauses zur Welt gekommen war. Zu
Lebzeiten meiner Eltern hatte ich nie zugehört, wenn von solchen Dingen die
Rede gewesen war. Inzwischen lebte niemand mehr von meiner Familie, der
diese Details kennen konnte. Die einzige Möglichkeit, noch etwas
herauszubekommen, wäre gewesen, an den Ort meiner Kindheit zu reisen und
dort nach Informationen zu suchen. Doch das war ausgeschlossen, da ich
unter keinen Umständen reise.
Eines Nachts kamen Wesen aus dem Fleck an der Wand. Sie sprachen gut
verständlich: „Geografie ist eine Lüge, wie die ganze Welt eine Lüge ist.
Du kannst die Reise genauso gut in deinem Sessel unternehmen.“
Die Methode, die sie mir nahelegten, erschien mir sympathisch, und am
Morgen probierte ich sie aus. Tatsächlich fand ich mich in meinem
Geburtsort wieder. Ich ging zum Meldeamt, hoffend, dass man mir dort die
eine oder andere Frage nach meiner Familiengeschichte oder Geburt
beantworten konnte. Unterwegs passierte ich ein altes Gebäude. Die Mauer,
an der ich vorbeiging, war zum Teil von einem großen Relief bedeckt. Als
Kind hatte ich es bestaunt, ohne zu verstehen, was es darstellte. Auch
jetzt konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Die fleckige Mauer erweckte
an einer Stelle den Eindruck, als drücke von innen etwas gegen die
Putzschicht.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob ich etwas Ähnliches nicht schon einmal
irgendwo beobachtet hatte. Wie so oft, wenn ich versuche, mich auf etwas zu
konzentrieren, verschob sich mein überfordertes Bewusstsein auf traumartige
Weise, und ich schlief ein. Im nächsten Moment wieder aufschreckend,
glaubte ich mich zu erinnern, dass das Phänomen in der Mauer indirekt vom
Elektrizitätswerk, der vormaligen Meierei, gegenüber erzeugt wurde.
Daraus folgte logischerweise: Wenn es mir möglich war, diese Reise daheim
im Sessel zu unternehmen, dann war es auch möglich, dass ich an dem ganzen
Vorgang überhaupt nicht beteiligt war, sondern vielmehr nicht das
Allergeringste damit zu tun hatte. Die Wesen aus der Wohnzimmerwand
beglückwünschten mich dazu, dass ich „so schön mitarbeitete“. Auch der
Bürgermeister kam eilends gelaufen und reichte mir seine Hand, die viermal
so groß war wie meine eigene.
1 Nov 2016
## AUTOREN
Eugen Egner
## TAGS
Familie
Groteske
Vergangenheit
Groteske
Begehren
Autoren
Insel
Insel
Mystery
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