| # taz.de -- Die Wahrheit: Das Gras der Angst | |
| > Auf der einen Insel als Mäher, auf der anderen als Begleiter: unterwegs | |
| > als Mädchen für alles im Auftrag der albtraumhaften Wissenschaft. | |
| Bild: Etwa fünf Prozent der Fläche Deutschlands ist von Rasen bedeckt | |
| Eigentlich war ich auf der Insel, um die Wirkung des dort üppig wachsenden | |
| Grases auf die menschliche Psyche zu untersuchen. Das Projekt wurde für die | |
| Dauer von zwölf Monaten mit einem Stipendium gefördert. Nach Ablauf der | |
| Frist war eine mindestens 150-seitige Abhandlung vorzulegen, andernfalls | |
| musste die Stipendiumssumme komplett zurückgezahlt werden. Ein halbes Jahr | |
| war vergangen, und ich hatte noch nicht mehr geschafft, als den | |
| verheerenden psychotropen Effekt des Grases zu konstatieren. Es erzeugte – | |
| wohl durch Sporen verbreitete – Angst sowie den zwingenden Eindruck der | |
| Sinnlosigkeit jedweden menschlichen Tuns und Trachtens. Deshalb musste es | |
| dauernd gemäht werden. | |
| Vor meinem Eintreffen auf der nur von vier Wissenschaftlern bewohnten Insel | |
| hatten jene das Mähen nachlässig betrieben und infolgedessen an | |
| entsprechenden Zuständen gelitten. Daraus hatte sich für mich die | |
| Notwendigkeit ergeben, vom ersten Tag an mit dem Rasenmäher die Ursache der | |
| Angst zu bekämpfen, damit überhaupt wieder geforscht werden konnte. Wegen | |
| seines schnellen Nachwachsens musste ich das Inselgras so oft mähen, dass | |
| man bald nur noch einen Gartenhelfer in mir sah. Von da war es dann nicht | |
| weit zum „Mädchen für alles“. Bald war meine Zeit ausgefüllt von diversen | |
| Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten. | |
| Wenn ich auch dringend mit meiner Studie über das Gras vorankommen musste, | |
| war es mir doch eine willkommene Abwechslung, als mich die Biologin Boehm | |
| einlud, sie zur Nachbarinsel zu begleiten. Als wir nach kurzer Fahrt aus | |
| dem Motorboot stiegen, sagte Frau Boehm: „Zuerst gehen wir zu der Hütte, | |
| die unsere Unterkunft sein wird.“ Mit ihrem Koffer an der Hand ging sie | |
| voran. Ich hoffte, diese Hütte werde groß genug für zwei Personen sein und | |
| ein Mindestmaß an Komfort bieten. Eine Viertelstunde lang suchten wir die | |
| nicht eben große Insel ab, ohne auf etwas auch nur entfernt Hüttenartiges | |
| zu stoßen. | |
| „Seltsam“, meinte Boehm schließlich, „ich kann beschwören, dass es hier | |
| eine Hütte gab, die ich schon des Öfteren benutzt habe. Wir warten bis zum | |
| Abend. Wenn bis dahin die Hütte noch immer weg ist, fahren wir zurück.“ | |
| Wo sie eben stand, ließ sie ihren Koffer fallen, setzte sich im | |
| Schneidersitz auf den Boden und schloss die Augen. Wenig später schlief | |
| sie. Und um ihr dabei zuzusehen, war ich mitgekommen? Wie gut hätte ich die | |
| vielen Stunden, die ich jetzt hier völlig sinnlos verlor, für meine | |
| schriftliche Abhandlung nutzen können! Auch musste das Gras auf der anderen | |
| Insel unbedingt wieder gemäht werden. Es war zum Wahnsinnigwerden. | |
| Ich versuchte, mir die Zeit mit Hin- und Herlaufen zu vertreiben. Zahllose | |
| Male überquerte ich die Insel in alle möglichen Richtungen. Jedes Mal wenn | |
| ich zu Boehm zurückkam, schlief sie. Als es dunkel wurde, erwachte sie | |
| endlich. „Die Hütte ist nicht zurückgekehrt“, stellte sie fest. „Sehr | |
| enttäuschend. Dann hat es also keinen Zweck zu bleiben.“ Gut ausgeschlafen | |
| ergriff sie ihren Koffer und ging voran zum Motorboot. | |
| 29 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
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