| # taz.de -- Die Wahrheit: Ratgeber gegen Ratlosigkeit | |
| > Manche Kollegen erlitten bereits langanhaltende Weinkrämpfe. Denn mit dem | |
| > Erklärwerk zur Problemlösung ging es nicht voran. | |
| Bild: Die Welt und ich | |
| Überraschend verlangte die Regierung vom Amt für Grapheologie, ein Werk | |
| wider die allgemeine große Ratlosigkeit der Bevölkerung zu verfassen. Es | |
| sollte ein praktischer Ratgeber in allen ausweglosen Lebenslagen erstellt | |
| und preisgünstig in Umlauf gebracht werden. Das ging weit über die | |
| traditionellen Aufgaben des Amtes hinaus und stürzte dessen Belegschaft | |
| ihrerseits in Ratlosigkeit. Die Redaktion eines solchen Ratgebers setzte | |
| große Weltklugheit und Lebensweisheit voraus. Es mussten sämtliche | |
| Ratlosigkeit erzeugenden Probleme erfasst und mit probaten | |
| Lösungsvorschlägen versehen werden. Die mit der Durchführung Betrauten | |
| sahen sich einem schier unlösbaren Problem gegenüber. | |
| In der Folge uferte das Projekt gewaltig aus. Überall wucherten Verweise, | |
| Fußnoten und Fortsetzungen. Schon der Haupttitel geriet so lang, dass er | |
| weiter hinten im Buch fortgesetzt werden musste. Mit dem Impressum ging es | |
| ebenso. Die Ausführlichkeit sowohl der Widmung als auch ihrer Begründung | |
| und das fünfzigseitige Register machten weitere Unterbrechungen, Einschübe | |
| und Anmerkungen unumgänglich. Nicht wenige Quer- und Mehrfachverweise waren | |
| darunter. | |
| Ein halbes Jahr später wurde noch immer am Konzept des hochkomplizierten | |
| Umbruchs gefeilt. Zur Erarbeitung der Lösungsvorschläge war man indes noch | |
| nicht gekommen. Die Amtsleitung hatte neuerdings vorgeschlagen, ein | |
| Extrakapitel einzufügen, welches die Umstände schildern sollte, unter denen | |
| das Werk entstand. | |
| Nach einem weiteren Vierteljahr begann der arbeitsbedingte Druck | |
| unerträglich zu werden. Die Regierung mahnte die Fertigstellung und das | |
| Erscheinen des Ratgebers an und drohte, den Laden auffliegen zu lassen, | |
| falls es noch länger dauern sollte. Gleichzeitig bestand die Amtsleitung | |
| auf einer konzeptionellen Änderung: Das Buch müsse so angelegt werden, dass | |
| es nicht nur unter dauerndem Hin- und Herblättern, sondern genauso gut auch | |
| linear gelesen werden könne. Darüber vergingen abermals schwere, | |
| entbehrungsreiche Wochen. | |
| Das Arbeitsklima wurde allmählich unerträglich. Das verfluchte Projekt | |
| drohte alle umzubringen. Abermals musste der gesamte Umbruch geändert | |
| werden, neue Verweise und Fußnoten waren nötig geworden. Noch immer war | |
| kein einziger praktischer Ratschlag formuliert. Manche Kollegen erlitten | |
| bereits langanhaltende Weinkrämpfe. Schließlich wurde das Kapitel über die | |
| Entstehungsgeschichte des Ratgeberwerks wieder gestrichen, da niemand mehr | |
| daran erinnert werden wollte. | |
| Und dann wurde auch noch das Gebäude, in dem das Amt untergebracht war, von | |
| Grund auf saniert. Wieder und wieder mussten die Mitarbeiter in | |
| höhergelegene Büroräume ausweichen. Es wurde zusehends schwieriger, | |
| funktionierende Stromanschlüsse und Toiletten zu finden. Bald war das Amt | |
| für Grapheologie unter dem Dach angelangt. Elektrischen Strom gab es keinen | |
| mehr, und die Belegschaft musste ihre Notdurft in die Regenrinnen | |
| verrichten. | |
| 10 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Eugen Egner | |
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