# taz.de -- Die Wahrheit: Die sensationelle Jackettdoublette | |
> Angemessene Kleidung ist beim Betrachten von Kraftfahrzeugen vonnöten. | |
> Auch eine Karriere in der Politik ist ohne sie kaum denkbar. | |
Bevor ich zu einem neuen erschütternden Abenteuer aufbrach, nahm ich | |
schnell ein leichtes Sommerjackett aus dem Kleiderschrank im Garten und zog | |
es an. Mir war, als hätte es früher meiner Mutter gehört. Für modebewusste | |
Leser sei noch hinzugefügt: Der dünne weiße Stoff war mit stilisierten | |
großen blauen Blüten bedruckt. Zu meiner weiten grünlichen Hose passte das | |
Muster schlecht, doch würde das erfahrungsgemäß niemanden interessieren. | |
Für gewöhnlich wurde ich ignoriert. | |
Dieser Umstand gab mir sehr große Freiheit, ich konnte beispielsweise | |
unbemerkt verarmen und sterben – oder vorgenanntes Jackett auf der Straße | |
tragen. Genauso gut hätte ich in einem kurzen Leopardenfelljäckchen und | |
grellem Make-up losziehen können (vielleicht nächstes Mal). Mir lief die | |
Nase, ein untrügliches Zeichen dafür, dass etwas geschehen würde. | |
Als ich dann draußen war, wollte ich nicht bloß einfach an der Straße | |
stehen und die verschiedenen Arten von Kraftfahrzeugen beobachten. Deshalb | |
ging ich zu einer Wahlveranstaltung. Essend und trinkend lauschte ich dort | |
den Reden, es war furchtbar. | |
Zu meinem grenzenlosen Erstaunen sprach mich am Wurststand die Kandidatin | |
der „Hoffentlich kommt der Tod schnell und schmerzlos (am liebsten | |
sanft)“-Partei an und fragte, ob ich ihren Wahlkreis übernehmen wolle. Sie | |
hätte wahrscheinlich jeden gefragt, daher auch mich. Obwohl ich es | |
schmeichelhaft fand, von ihr wahrgenommen zu werden, lehnte ich das Angebot | |
ab, denn eine politische Karriere kam für meine Person überhaupt nicht in | |
Frage. Als Begründung brachte ich vor, in Kürze aus der Welt austreten zu | |
wollen. Dafür erntete ich Verständnis und war die Sache in allen Ehren los. | |
Dummerweise tropfte mir etwas Bratensoße aufs Jackett, so dass zwei große | |
braune Flecken entstanden. Verärgert lief ich zur nächsten Toilette. Im | |
Vorraum wollte ich versuchen, die Soßeflecken mit Wasser und Seife zu | |
entfernen. Ehe ich damit beginnen konnte, kam eine ältere Dame herein, die | |
das gleiche Jackett wie ich trug. Sie riet mir vom Auswaschen der Flecken | |
ab, denn dadurch würde alles in der Welt noch schlimmer. | |
Schnell setzte ich die Brille auf, um sicherzustellen, dass nicht etwa mein | |
Spiegelbild mit mir redete. Es war in der Tat eine ältere Dame, und sie | |
trug das gleiche Jackett wie ich, aber ohne Flecken. Wir kamen ins | |
Gespräch. Dabei stellte sich heraus, dass sie ihr Jackett ebenfalls dem | |
Kleiderschrank in meinem Garten entnommen hatte. Damit war der Beweis | |
erbracht: Die in dem Schrank aufbewahrten Kleidungsstücke verdoppelten | |
sich, wie schon seit Langem vermutet wurde. | |
Kaum konnte ich es erwarten, die Medien darüber zu informieren. Zuletzt | |
verriet mir die besagte Dame noch, sie habe soeben einen Wahlkreis | |
übernommen. Nunmehr sei sie Kandidatin der „Hoffentlich kommt der Tod | |
schnell und schmerzlos (am liebsten sanft)“-Partei. Ich gratulierte ihr und | |
brachte mein Jackett zur Reinigung. Für diesen Tag hatte ich genug erlebt. | |
9 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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