| # taz.de -- G20-Krawalle in Hamburg: Der Aufstand | |
| > Man kann die Ausschreitungen von Hamburg verurteilen – natürlich. Man | |
| > sollte sie aber auch verstehen. Ein Deutungsvorschlag. | |
| Bild: „MALP ESKORBUTO“ ist baskisch. Das erste Wort steht für „Muerte a … | |
| Viele sagen, es sei nur sinnentleerte Gewalt, gut. Es ist ja niemand | |
| gezwungen, die Krawalle von Hamburg politisch zu deuten. Wer will, kann es | |
| trotzdem tun. Dies ist ein Deutungsvorschlag. | |
| Am Abend des 28. Dezembers 2014 stand ein hagerer Mann mit einem grauen | |
| Kapuzenpullover auf einer Bühne im Congress Centrum Hamburg und hielt dort | |
| vor Tausenden Menschen einen Vortrag. Damals trat er heraus als Mitglied | |
| eines „Unsichtbaren Komitees“. Sein französischer Akzent deutete an, woher | |
| er angereist war. | |
| Dieser Mann, eigentlich eher ein Jüngelchen, trat hier beim Hackerkongress | |
| des Chaos Computer Clubs, beim 31C3, als Teil eines Kollektivs aus der | |
| Unsichtbarkeit hervor: Als Teil des „Unsichtbaren Komitees“ – so | |
| sagenumwoben wie der „schwarze Block“, von dem viele Menschen auf | |
| Demonstrationen wahlweise sehr genau zu wissen meinen, was sich dahinter | |
| verbirgt – oder eben gar nicht. | |
| Der Mann sollte den technikaffinen Anarchisten in Hamburg erklären, was | |
| „der kommende Aufstand“ mit Google zu tun hat und mit den | |
| Infrastrukturnetzen der Glasfaserkabel, die so etwas wie die Lebensadern | |
| einer aufgeklärten Informationsgesellschaft sind, weil sie die | |
| Kommunikation unserer Zeit transportieren. Er stotterte viel und, ehrlich | |
| gesagt, seine Rede war schlecht. Es wäre besser gewesen, einen Schauspieler | |
| vortragen zu lassen, was die Gruppe zu sagen hatte, damit der Pathos ihres | |
| viel beachteten Buchs erhalten blieb. So war es einfach nur authentisch. | |
| ## Wahrnehmung wiedererlangen | |
| „Der kommende Aufstand“ ist ein Text, der in Frankreich geschrieben wurde, | |
| in Deutschland, 128 Seiten lang, erschien er im Jahr 2010 im Hamburger | |
| Nautilus Verlag, der seinen Sitz in der Schützenstraße hat; etwa drei | |
| Kilometer entfernt von der Roten Flora, dem autonomen Zentrum Hamburgs. Im | |
| Internet ist die Flugschrift jedem frei zugänglich. Im Text heißt es unter | |
| anderem: | |
| Ein Aufstand, wir können uns nicht mal mehr vorstellen, wo er beginnt. | |
| Sechzig Jahre der Befriedung, ausgesetzter historischer Umwälzungen, | |
| sechzig Jahre demokratischer Anästhesie und Verwaltung der Ereignisse haben | |
| in uns eine gewisse abrupte Wahrnehmung des Realen geschwächt, den | |
| parteilichen Sinn für den laufenden Krieg. Es ist die Wahrnehmung, die wir | |
| wiedererlangen müssen, um zu beginnen. | |
| Als am frühen Freitagabend am Neuen Pferdemarkt in Hamburg – 400 Meter | |
| entfernt von der Roten Flora und 1.200 Meter entfernt vom Messezentrum, wo | |
| zuvor die Staatschefs tagten – die Straßenschlacht beginnt, manifestiert | |
| sich gewissermaßen auch ein Wahrnehmungsangebot: Hunderte Menschen, schwer | |
| vermummt in schwarzer Kleidung, beginnen, Pflastersteine aus den | |
| Bürgersteigen zu brechen. Sie hebeln mit abgebrochenen Straßenschildern | |
| Bodenplatten aus, zertrümmern sie in Kleinteile, deponieren sie in | |
| rollenden Mülltonnen, mit denen die Steindepots zu strategisch günstigen | |
| Stellen gebracht werden. | |
| Während Hunderte in Stoßtrupps immer wieder vorstechen, um an einer | |
| Kreuzung Wasserwerfer und Beamte kollektiv mit Steinen zu bewerfen, | |
| errichten andere in den hinteren Reihen brennende Barrikaden. Sie befeuern | |
| die Barrikaden, bis hohe, lodernde Flammen entstehen. Am Ende der Nacht | |
| wird der Asphalt unter den Feuern geschmolzen sein. Stundenlang brennen die | |
| offenen Flammen an verschiedenen Stellen im Viertel. Feuerwehr und Polizei? | |
| Nicht zu sehen. Als eine Drogerie geplündert wird, greifen sich Vermummte | |
| Spraydosen und werfen sie nach und nach ins Feuer. Das sorgt für akustische | |
| und auch optische Effekte. | |
| Herzlich willkommen im alternativsten Stadtteil von Hamburg, am ersten | |
| Abend des G20-Gipfels. | |
| ## Links: die Randale. Und rechts: das Konzert. | |
| Es gibt eine Stelle im „Kommenden Aufstand“, die zu Sabotage, Subversion, | |
| Gewalt ruft. Da steht: | |
| Nie war das Gefühl eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs so | |
| lebhaft. | |
| In der Elbphilharmonie dirigiert zu dieser Stunde, gleichzeitig also, | |
| innerhalb einer Sicherheitszone, die mit Wasserwerfern, Räumfahrzeugen, | |
| Hubschraubern, Polizeibooten mit Tauchern und mit Hunderten Beamten | |
| gesichert ist – in Bereitschaft schwer bewaffnete Sondereinheiten und die | |
| Bundeswehr – der Dirigent Kent Nagano das Hamburger Staatsorchester. | |
| Der Nachrichtensender N24 sendet einen Livestream von beiden Orten | |
| gleichzeitig. Links im Bild: die Randale am Schulterblatt. Rechts auf dem | |
| Bildschirm: das Konzert, dem die Staatschefs lauschen. Unter den Bildern | |
| blendet der Nachrichtensender eine Banderole ein. Dort steht: „Beethovens | |
| 9. Sinfonie: ‚Alle Menschen werden Brüder‘“. | |
| Beethovens Neunte, mit Text von Friedrich Schiller, sie klingt so: | |
| Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten | |
| feuertrunken, Himmlische, dein Heiligthum. Deine Zauber binden wieder, was | |
| der Mode Schwerd getheilt; Bettler werden Fürstenbrüder, wo dein sanfter | |
| Flügel weilt. | |
| Das ist der Moment. Das ist der Antagonismus. Das ist das Bild einer | |
| Gegensätzlichkeit, auf das die militante Szene Europas seit Monaten | |
| hingearbeitet hat. In ihrer Logik ist dies: ein Erfolg. Dieser „Erfolg“, | |
| die Wahrnehmung zu erzeugen, dass die Welt aus den Fugen ist, zeigt sich in | |
| Bildern, die in Echtzeit gesendet werden an Hunderttausende von Zuschauern, | |
| die nicht begreifen können, was in Hamburg gerade passiert. | |
| ## Antagonismus als Mittel | |
| So, als sei nicht längst klar, dass die Welt aus den Fugen zu geraten | |
| scheint. So, als müssten das noch mehr Menschen begreifen. So, als müssten | |
| sich diese nun organisieren auf eine Weise, die Theorie und Namen hat: | |
| Insurrektionalismus. | |
| Das ist ein hässlicher Begriff für eine einfache Sache. Übersetzt: | |
| aufständischer Anarchismus. Das Konzept der Attacke ist ihr Kern. Seine | |
| Anhänger lehnen Organisationen radikal ab. Sie organisieren sich in | |
| Kleingruppen und Kollektiven und propagieren den Klassenkampf. Ihr Mittel | |
| ist: die Propaganda der Tat. | |
| Ihr Mittel ist außerdem: der Antagonismus. Ihr Mittel ist Hamburg, wo | |
| vieles symbolhaft zusammenfindet, was in dem zu bekämpfenden System | |
| Bedeutung hat. Einst, nur ein Randdetail, zeigte hier ein Individuum des | |
| Unsichtbaren Komitees beim Chaos Computer Club sein Gesicht, aber viel | |
| wichtiger noch: der Hafen, Sinnbild globalen Handels. | |
| Dass Angela Merkel Beethovens Neunte spielen lässt, ist eine symbolische | |
| und kulturelle Erziehungsmaßnahme. Sie möchte, dass ihre Staatsgäste, die | |
| so viel mehr trennt als vereint, der Europahymne zuhören. | |
| ## Kein Randdetail, dass französische Graffitis auftauchen | |
| So wie der Sound des „kommenden Aufstands“ – ein Buch, das sich förmlich | |
| einsaugen, wegatmen lässt – zum Pathetischsten gehört, was in den letzten | |
| Jahren aus der radikalen, antikapitalistischen Subkultur produziert wurde, | |
| so darf sicherlich auf der anderen Seite Beethovens Neunte als eine der | |
| pathetischsten Kompositionen der europäischen Hochkultur bezeichnet werden. | |
| Erst durch dieses so verdichtete Bild lässt sich der absolute Antagonismus | |
| der militanten Szene inszenieren. Mit dem G20-Gipfel und seinem kulturellen | |
| Abendprogramm zeigt sich in Hamburg so nicht nur der Kontrast zwischen Arm | |
| und Reich. Es zeigt sich auch der Kontrast zwischen einer europäischen | |
| Leitidee, für die Angela Merkel und Emmanuel Macron kämpfen – und den | |
| Protagonisten der radikalen Tat: Da sitzen der saudische Finanzminister, | |
| Trump, Putin, Erdoğan; da tobt der aufständische Mob auf der Straße, der | |
| die Krawalle zum sozialrevolutionären Projekt verklärt. | |
| Es ist deshalb nicht nur ein Randdetail, dass im Hamburger Stadtbild am | |
| Wochenende immer wieder französischsprachige Graffiti auftauchen, die | |
| Macron den Kampf ansagen. | |
| ## Sie sahen in Hamburg einen Exzess | |
| In einem der geplünderten Geschäfte im Schanzenviertel sprühen Militante in | |
| schwarzer Farbe an die Wand: „MALP ESKORBUTO“, das ist baskisch. Das erste | |
| Wort steht für „Muerte a la Policia“, „Tod der Polizei“. Das zweite is… | |
| Name einer baskischen Punkband. Das Graffito ist eine Referenz an den | |
| baskischen Befreiungskampf. | |
| Es beteiligen sich, auch das gehört zur Wahrheit, am Straßenkampf in | |
| Hamburg an diesem Wochenende viele, die nicht unmittelbar diesem inneren | |
| Kreis der europäischen Anarchistenszene zugehören. Hamburger Linksradikale, | |
| adrenalingeschwängerte Kids, Hooligans. Um sie herum: Schaulustige und | |
| Journalisten. | |
| Sie sahen in Hamburg einen Exzess, der aussah wie sinnentleerte Gewalt. | |
| Hinter dieser Gewalt steckt eine Idee. Ob sie Sinn macht, darf bestritten | |
| werden. | |
| [1][Martin Kaul], 35, ist taz-Reporter und beschäftigt sich seit Jahren mit | |
| sozialen Bewegungen. Er wurde in der Nacht zum Samstag im Schanzenviertel | |
| niedergeschlagen, als er dokumentieren wollte, wie Vermummte inmitten | |
| brennender Barrikaden versuchten, einen Bankautomaten aufzubrechen. | |
| 9 Jul 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Kaul | |
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