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# taz.de -- Linkspradikale Diskurse mit Glamour: Revolution mit Melancholie
> Das Büchlein „The Coming Insurrection“ (Der kommende Aufstand) ist der
> aktuellste Versuch, ultralinker Politik ein glamouröses Antlitz zu
> verpassen.
Bild: „MALP ESKORBUTO“ ist baskisch. Das erste Wort steht für „Muerte a …
Seit ein paar Monaten liegt an den Verkaufstresen der zwei oder drei
kleinen Berliner Polit- und Kunstbuchhandlungen meiner Wahl prominent
platziert ein handliches blaues Buch aus. „The Coming Insurrection“ (Der
kommende Aufstand) heißt es, der Verfasser ist ein anonymes
Autorenkollektiv namens The Invisible Committee. Mediale Aufmerksamkeit
erlangte diese Gruppe, als im November 2008 die sogenannten Tarnac 9
festgenommen wurden, ein in dem französischen Dorf Tarnac lebendes
Kollektiv, das beschuldigt wurde, Zugstrecken lahmgelegt zu haben.
Ein Mitglied der Tarnac 9, Julien Coupat, wurde als einer der Autoren des
blauen Buchs ausgemacht, was er jedoch abstritt. Vertreter des
französischen Staates lasen „Linsurrection qui vient“ wegen einiger
Passagen, die von Bewaffnung handeln, als Anleitung zum Terrorismus. Im
August 2009 veröffentlichte der US-Verlag semiotext(e) die englische
Übersetzung.
Das Buch ist der aktuellste Versuch, ultralinker Politik ein glamouröses
Antlitz zu verpassen. Situationismus, Autonomen-Anarchismus und Punkpoesie
werden darin zu einem knackig formulierten Pamphlet gemixt. Es gibt
herrlich resignierende Sätze wie diesen: „Das Paar ist die letzte Phase des
großen sozialen Debakels.“
Überhaupt gefallen sich die Autoren in der Pose der heroischen
Melancholiker. Der Kapitalismus ist unschlagbar, eine Revolution
unwahrscheinlich - und genau deswegen muss man genau jetzt den Aufstand
wollen. Ihr praktischer Vorschlag: Kommunen bilden! Nur so könnten die
kapitalistische Maschine und ihre Kommunikationsflüsse unterbrochen werden.
Im argumentativen Zentrum steht die Gegenüberstellung von „echter“ und
„entfremdeter“ Politik. Die Kommune der Gleichgesinnten: das schöne Reich
der Unmittelbarkeit. Das parlamentarische System: das hässliche Theater der
Repräsentation. Einmal mehr wird Rousseaus Traum von einer authentischen
Gesellschaft ohne Konflikte geträumt. Über den repressiven (und
regressiven) Charakter politischer Unmittelbarkeit machen sich die Autoren
allerdings ebenso wenig Gedanken wie über die Frage, wie in einer
globalisierten Gesellschaft ohne Repräsentation eine Politik möglich sein
soll, die die Interessen möglichst vieler Menschen berücksichtigt. Auch
vermisst man eine kritische Reflexion darüber, warum wohl das alte linke
Ideal der Selbstbestimmung auf den neoliberalen Hund gekommen ist -
Stichwort „Eigenverantwortung“.
Nichtsdestotrotz erlebt diese Art von Textproduktion gerade eine kleine
Konjunktur. Bei Merve erscheint in diesen Tagen „Grundbausteine einer
Theorie des Jungen-Mädchens“ von Tiqqun. Tiqqun ist ein Kollektiv, das mit
dem Invisible Committee personell verwoben ist. Genaues soll niemand
erfahren, mit Versteckspielchen verweigert man sich den
Sichtbarkeitsimperativen des Web 2.0.
„Grundbausteine einer Theorie des Junge-Mädchens“ ist Konsumkritik alter
Schule in der Maske des Neuen. Die Figur des „Junge-Mädchens“ stehe für d…
„Modell-Bürger, wie die Warengesellschaft ihn seit dem Ersten Weltkrieg als
explizite Antwort auf die revolutionäre Bedrohung neu definiert hat“. Sie
verkörpert „die Fülle der uneigentlichen Existenz“. Wieder ist der
Gegensatz denkbar schlicht. Hier die wahren und „eigentlichen“ Bedürfnisse,
dort das Spektakel, das uns verblendet und mit Falschem zudröhnt. Und der
Staat? Er ist laut Tiqqun natürlich nichts anderes als der große Fiese, der
unsere Begierden unterdrückt. Repressionshypothese revisited?
Mit derartigen Grobschnitzereien bedient dieser Diskurs das grassierende
Ressentiment gegen repräsentative Demokratien und ihre Institutionen.
Nichteinverstandensein einfach gemacht. Der Situationismus-Update veredelt
diese Haltung mit Theorieglamour und dem Nimbus des Radikalen. So bekommt
der Leser das gute Gefühl, sich vom gewöhnlichen Protest-Nichtwähler
kulturell zu unterscheiden. Mit ihrem Kult der Unmittelbarkeit sind diese
Publikationen Anleitungen zur Regression in eine vielleicht verführerische,
aber letztlich klaustrophobische Politidylle.
10 Nov 2009
## AUTOREN
Aram Lintzel
## TAGS
Schwerpunkt G20 in Hamburg
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