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# taz.de -- Der Kampf um die Ehe für alle: Ein Happy End
> Die Öffnung der Ehe: Der Grüne Volker Beck hat fast 30 Jahre lang dafür
> gekämpft, der Merkel-Fan Ulli Köppe nur eine Woche.
Bild: Ulli Köppe stellte der Kanzlerin die entscheidende Frage
Berlin taz | Für Volker Beck endet an diesem Freitagmorgen ein 28-jähriger
Kampf. Mit ruhigen Schritten geht er ein letztes Mal zum Rednerpult des
Bundestags. „Das ist ein historischer Tag für unsere Minderheit“, ruft
Beck. Er ist ein bisschen aufgeregt, verhaspelt sich, als er weiterredet:
„Die Verheißungen unserer Verfassung und unserer Hymne werden dann endlich
auch für Lesben und Schwule wahr.“
Zwanzig Minuten später beschließt der Bundestag, dass Schwule und Lesben in
Zukunft heiraten dürfen. 393 Jastimmen von 623. Die Grünen schießen mit
kleinen Kanonen Konfetti auf Volker Beck. Ein Reporter des Senders Phoenix
will ihn interviewen, und Beck bricht die Stimme weg. Er ist am Ziel.
Homosexuelle können sich nun mit alle Rechten und Pflichten verbinden, die
heterosexuelle Paare auch haben. Das ist eine Revolution, die Anerkennung
der Mehrheit für Menschen, die sie lange ausgegrenzt und verfolgt hat: Ihr
seid wie wir.
Volker Beck, 56, Grünen-Politiker und Vorkämpfer für Homosexuellenrechte,
muss sich in diesem Moment ein bisschen wie in einem Hollywoodfilm fühlen.
Fast dreißig Jahre Kampf, und am letzten Tag das. Seine Fraktionschefin
dankt ihm am Rednerpult für sein „Lebenswerk“. Dabei hatte er sich heute
nur verabschieden sollen. Beck wird wie andere bekannte Grüne – Christian
Ströbele, Marielusie Beck – nach dieser Legislaturperiode nicht mehr im
Parlament sitzen. Ein ganz normaler Abgang also. Doch dann kam Ulli Köppe.
## Montag, 19.15 Uhr. Berlin, Maxim-Gorki-Theater
Ulli Köppe, 28, wollte die Kanzlerin schon immer einmal live sehen. Nun
sitzt er in der zweiten Reihe des Theaters, und Angela Merkel redet nur
wenige Meter entfernt auf der Bühne über Haare, Hotelfernseher und Humor.
Ein netter Plausch, organisiert von Deutschlands größter Frauenzeitschrift,
Brigitte. Bis er zum Mikrofon greift: Grüne, SPD und FDP hätten die Ehe für
alle als rote Linie ins Wahlprogramm aufgenommen, sagt Ulli Köppe und
fragt: „Wann darf ich meinen Freund Ehemann nennen?“ Applaus. Merkel
zögert.
Schon einmal wurde sie mit diesem Thema durch einen Zuschauer konfrontiert.
Vor vier Jahren in der „ARD Wahlarena“ argumentierte sie gegen die Öffnung
der Ehe mit ihrem Bauchgefühl. Es war einer der wenigen Momente, in denen
sie Unsicherheit zeigte. Hohn und Spott waren die Folge.
An diesem Montag sagt Merkel den Satz, der alles verändert: „Ich möchte die
Diskussion gerne mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung
einer Gewissensentscheidung geht, als dass ich per Mehrheitsbeschluss etwas
durchpauke.“
Am Morgen nach Merkels Auftritt schwebt Volker Beck geradezu auf die
Fernsehkameras im hohen Atrium des Jakob-Kaiser-Hauses in Berlin-Mitte zu.
Die Kanzlerin habe erkannt, dass sie mit einem Nein nichts gewinnen, aber
viel verlieren könne. Beck lächelt. Am selben Dienstag kündigt SPD-Chef
Martin Schulz an, dass seine Partei das Thema auf die Tagesordnung des
Bundestags setzt – zur Not mit den Stimmen der rot-rot-grünen Mehrheit.
Eine Sensation für die staatstragenden Sozialdemokraten.
Am Nachmittag des nächsten Tages ist schon absehbar, dass das Parlament die
Liberalisierung mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linken beschließen
wird.
Hinter Volker Becks Schreibtisch, Raum 1631, Jakob-Kaiser-Haus in
Berlin-Mitte, hängt ein schwarz-weißes Plakat, das eine Bahnhofsszene aus
dem 19. Jahrhundert zeigt. Der Orientexpress wartet am Bahnsteig, der
Schaffner mit Schiebermütze lacht, eine Dame mit Hut hat eine Zeitung unter
den Arm geklemmt. In der Waggontür steht ein junger Typ in edlem
Seidenpyjama und küsst seinen Freund im Wintermantel. Beck springt auf und
tippt auf den Typ im Pyjama. „Das bin ich.“ Die Dame sei seine Mutter.
Beck lacht und erzählt, wie er sich beim Fotoshooting eine Erkältung
einfing, weil es saukalt war und regnete. Keiner der Reisenden achtet auf
die beiden küssenden Männer, ihr Abschied bleibt intim. Die Szene atmet
großstädtische lässige Eleganz. Mit dem Plakat warben die Grünen bei der
Bundestagswahl 1987 dafür, Schwulsein als etwas Selbstverständliches zu
betrachten. Was bedeutet der Beschluss zur Ehe für alle für Sie, Herr Beck?
„Das ist natürlich ein großes Geschenk.“
Beck, kurze graue Haare, die Hemdsärmel hochgekrempelt, regelt den
Parlamentskanal auf dem Fernseher in seinem Büro herunter. Der Partner auf
dem Plakat sei übrigens ein Heteromodel. Kein anderer hatte sich damals die
Kussszene getraut, weil sie Angst gehabt hätten. „Das waren andere Zeiten.“
In den 80ern gilt Schwulsein vielen als etwas Schmutziges, Unnatürliches.
Helmut Kohl regiert, die von ihm angekündigte geistig-moralische Wende
liegt bleiern über dem Land. Der Spiegel bringt alarmistische Geschichten
über Aids, die neue, geheimnisvolle und tödliche Seuche, die die Angst vor
Homosexuellen schürt.
Die CSU bläst in Bayern zur Schwulenhatz, fordert Zwangstests,
Berufsverbote und Ausweisungen. Bayerns Kultusminister fabuliert,
Homosexualität gehöre in den „Randbereich der Entartung“. In diesem Klima
fängt Volker Beck als Schwulenreferent bei der Bundestagsfraktion der
Grünen an. In der westdeutschen Schwulen- und Lesbenszene hat die Ehe
damals einen schweren Stand. Sie gilt als reaktionäres Machtinstrument des
Patriarchats, das überwunden werden muss. Während der deutsche Staat
Schwule und Lesben mit verklemmter Illiberalität behandelt, beschließt
Dänemark 1989 ein Gesetz für eingetragene Partnerschaften. Der Beschluss
habe ihnen die Augen geöffnet, erzählt Beck. „Bürgerrechtspolitik muss
allen Menschen gleiche Rechte eröffnen.“ Ob die Leute in der Ehe nach den
katholischen Moralvorstellungen lebten oder ein wildes Sexualleben hätten,
das gehe den Staat nichts an.
## Mittwoch, 18 Uhr. Berliner Nikolaiviertel
Der Biergarten ist fast leer, nur zwei Tische sind besetzt. Bis eben hat es
geregnet, die Luft ist schwül. Ulli Köppe kommt von einem geschäftlichen
Termin, unterm Arm das MacBook. Er arbeitet als Eventmanager bei der
Blu-Mediengruppe, die Magazine für Homosexuelle herausgibt. Er bestellt
stilles Wasser. Er hat blaue Augen, kurzes blondes Haar, und unter dem
weißen Shirt zeichnen sich die Muskeln ab. Köppe lächelt so gut wie immer
und wenn er spricht, klingt das fast so, als würde er singen. „Dass ich für
die taz mal das Gym ausfallen lasse, hätte ich auch nicht gedacht“, sagt
er. Sechsmal die Woche geht er ins Fitnessstudio. Diese Woche schafft er
das nicht. Heute hat er mit Dutzenden Journalisten telefoniert, ein
Kamerateam von RTL war da. Sein iPhone liegt neben dem Wasserglas. Im
Sekundentakt blinkt es auf. „Der RTL-Beitrag lief gerade, in den
Hauptnachrichten. Jetzt geht’s ab“, sagt er. „Was hab ich nur getan?“ Am
Ende des Abends werden es über 60 Nachrichten bei Facebook sein, Dutzende
WhatsApp-Messages, Mails, SMS, unbeantwortete Anrufe. Die roten Symbole auf
dem Display machen ihn nervös. „Ich bin ein sortierter Mensch, ich habe
meinen Schreibtisch normalerweise im Griff.“
Er ärgert sich über Kommentatoren, die schreiben, Merkel habe am
Montagabend Homophobes gesagt, als sie von Jugendämtern redete, die lieber
homosexuellen Paaren ein Kind geben, als es in einer gewalttätigen Familie
zu lassen. Köppe stellt das Wasserglas zur Seite, seine Stimme wird
bestimmt, sein Lächeln verschwindet: „Sie meinte, dass sie in ihre
Überlegungen solche praktischen Dinge wie die Realität der Jugendämter
einbeziehen muss“, sagt er. Klar habe Merkel zu viel Zeit gebraucht für
ihren Umschwung, aber sie habe sich Gedanken gemacht und einen
Gesinnungswandel vollzogen. „Das ist ja fast schon Selbstkritik“, sagt
Köppe. Er hatte solche Diskussionen schon. Mit seiner Mutter.
Die sagte einmal, sie könne Merkel nicht wählen, weil diese ihrem Sohn
Rechte verwehrt. „Warum nicht, ich kann es doch auch“, sagte Ulli Köppe.
Nachdem er Merkel am Montag erlebt habe, sei klar, dass er sie wähle im
September. Und nicht nur wegen ihrer Antwort auf seine, wie er es nennt,
„kleine Frage“.
Im Juni 1989 schrieb Volker Beck mit dem Grünen-Mitarbeiter Günter Dworek
und dem früheren Bundesanwalt Manfred Bruns ein Papier mit dem Titel
„Möglichkeiten und Grenzen schwul-lesbischer Rechtspolitik für die 90er
Jahre“. Darin machten sie sich Gedanken über eine geregelte
Lebensgemeinschaft. Für viele in der Szene war das eine ungeheure
Provokation. Die drei Männer dachten nicht mehr über den Kampf gegen das
System nach, sondern über die Emanzipation und die freie Wahl des
Einzelnen. Wenig Pathos, dafür kleinteilige Geländegewinne. Eine lesbische
Grünen-Abgeordnete verdammte sie in einem Gegenpapier: „Macht die
Mottenkiste zu“. Beck wohnte mit der Verfasserin in einer WG in Bonn,
erzählt er, sie löste sich wegen des Ehekrachs auf.
Über die Ehedebatte hätten sie ganz andere Schwule und Lesben mobilisiert,
sagt Beck in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus und lehnt sich nach vorne,
„Leute, die im Beruf standen, die mit dem linksradikalen Milieu nichts
anfangen konnten.“ Beck und seine beiden Mitstreiter kehrten dem
westdeutschen Schwulenverband den Rücken. Nach der Wende gingen sie zum
SVD, dem Schwulenverband in der DDR. Der wurde später in den
gesamtdeutschen Lesben- und Schwulenverband in Deutschland umbenannt. Der
Verband stellte mit der Forderung der Ehe für alle den westdeutschen
Konkurrenzverband zunehmend ins Abseits, der löst sich 1997 schließlich
auf.
Die Ehestreiter planten, verschickten Statements, riefen bei Politikern an
und verschickten jeden Schnipsel, den die taz oder die „Aus aller
Welt“-Seite der Frankfurter Rundschau über sie druckte, an die Community.
Ab und zu landeten sie einen Coup.
Am 19. August 1992 sitzt der 31-jährige Beck in seiner Frankfurter
Dreizimmerwohnung, die gleichzeitig die SVD-Pressestelle ist – und hängt
ständig am Telefon. Ihre „Aktion Standesamt“ schlägt ein wie eine Bombe.
250 schwule und lesbische Paare haben überall in der Republik vor
Standesämtern das Aufgebot bestellt – und fordern das Recht, zu heiraten.
Die Regional- und Lokalblätter druckten Porträts, die Nachrichtenagenturen
berichteten. Manche Schwule lebten in Designerwohnungen, manche hatten
einen röhrenden Hirsch an der Wand, wieder andere waren Ökos. „Die Leute
erkannten, Mensch, die sind ja so toll wie wir oder so schrecklich wie
unsere Nachbarn“, sagt Beck in seinem Büro. „Die gängigen Klischees wurden
dekonstruiert.“
## Mittwochabend, 20 Uhr, Autofahrt nach Berlin-Schöneberg
Auf dem Beifahrersitz erzählt Ulli Köppe von seiner behüteten Kindheit mit
einer Schwester und toleranten Eltern im thüringischen Saalfeld. Dort wurde
er im April 1989 geboren. „Ich wusste schon immer, dass ich schwul bin“,
sagt er. Mit 16 zog er nach Berlin in eine Einraumwohnung im Plattenbau und
begann eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Nach wenigen Monaten
lernte er seinen heutigen Freund kennen. Seit 12 Jahren sind sie ein Paar,
verlobt, verpartnern wollten sie sich nicht.
Die Bild habe schon gefragt, ob sie eine Exklusivstory zur Hochzeit
bekommen kann. „Müssen wir jetzt heiraten?“, fragte sein Freund am
Dienstag. Sie hätten sich darauf geeinigt, sie müssten es nicht.
Wie findet Ulli Köppe eigentlich Volker Beck? „Ich habe noch nie Drogen
genommen“, sagt Ulli Köppe. Beck war laut Medienberichten im März 2016 mit
Crystal Meth erwischt worden. Er wisse um die historischen Verdienste, aber
in der aktuellen Politik der Grünen finde er sich kaum wieder. Dafür reise
und fliege er viel zu gern. Auch die Diskussion über gendergerechte Sprache
sei nicht sein Ding. „Es gibt so viel Wichtigeres“, sagt Köppe,
„Rentenpolitik, Steuern, Syrien, Arbeitslosigkeit.“
Lange weht Volker Beck in der Politik der Hauch bundesrepublikanischer
Verklemmtheit an. Sie kleben ihm abgerollte Kondome an die Bonner Bürotür,
daran erinnert er sich. Der Bundestagspräsident lehnt einen Antrag der
Grünen-Fraktion ab, weil die Worte „Schwule“ und „Lesben“ in der
Überschrift stehen. Begründung: Diese Begriffe würden von vielen
KollegInnen nicht als Bestandteil der Hochsprache anerkannt.
Auch das ist etwas, wofür Beck bis heute steht. Er war und ist fast der
einzige schwule und prominente Vertreter einer Partei, der offensiv für die
Sache seiner Community kämpfte.
Politiker wie Wowereit oder Spahn, die viel Applaus für ihr Outing bekamen,
haben ihr Schwulsein nie als politischen Auftrag begriffen.
Beck schon. Er wappnet sich früh mit Fakten gegen die vielfältigen
Angriffe. Seine gedrechselten Sätze, seine kleinteilige Faktenhuberei,
seine Lust an der Selbstdarstellung, das wirkt schnell arrogant. Oft
schießt er einen lässigen Witz zurück, wenn ihm jemand verschwitzt kommt.
Und er zeigt fast nie Schwäche. „Schwäche hätte das Klischee bestätigt“,
sagt er. „Ich habe mir einen Panzer zugelegt. Ohne ihn hätte ich die Arbeit
in den Parlamentsgremien nicht überlebt.“ Seine Freunde bei den Grünen
sagen, er sei ein gnadenlos guter Verhandler – und immer an der Sache
interessiert. Seine Feinde sagen, er sei vor allem an sich selbst
interessiert. Wahrscheinlich stimmt von beidem etwas.
Dann ist da die Sache mit der Pädophilie. Beck veröffentlicht 1989 in einem
Sammelband einen Text, in dem er die teilweise Entkriminalisierung von
gewaltfreiem Sex mit Kindern fordert. Gleichzeitig plädiert er aber für die
Abkehr von der noch radikaleren Forderung einer völligen
Entkriminalisierung, die damals von Pädophilen in der Schwulenszene und
bei den Grünen vertreten wurde. Von der ersten Forderung distanziert sich
Beck heute. Vor der Bundestagswahl 2013 behauptet er, der Text sei von dem
Herausgeber durch freie Redigierung verfälscht worden. Als ein
Wissenschaftler das Originalmanuskript findet, stellt sich heraus, dass der
Herausgeber nur geringe Änderungen vorgenommen hat.
Diese Täuschung kreiden ihm viele Menschen bis heute an, auch viele Grüne.
Dagegen ist die Sache mit der Droge Crystal Meth eher vernachlässigbar.
Dass die Grünen Beck nicht mehr für den Bundestag aufstellen wollen, hat
mit diesen Skandalen zu tun, aber auch mit einem verbreiteten Gefühl, es
seien nach 23 Jahren im Parlament mal Neue dran.
## Mittwochabend, 20.30 Uhr. Berlin-Schöneberg
Im Wohnzimmer – Sichtbeton und Designermöbel – sitzen gut 30 Männer bei
Sekt und Likör, Chips und Häppchen. Ein Beamer steht auf einem
Beistelltisch. Köppe ist der Einzige, der nicht in Socken umherläuft.
Einige tuscheln. „Ist er das?“ Köppe gießt sich Leitungswasser ins Glas.
Zum fünten Mal treffen sie sich hier schon – schwule Männer, die gemeinsam
einen Film gucken und davor ein bisschen über Homopolitik diskutieren. Sie
nennen es „Q* Movy Night“, heute wird die schwedische Komödie „Patrick 1…
laufen. Ein Vertreter des Stammtischs schwuler Väter ist da und einer von
den Lesben und Schwulen in der Union.
Ulli Köppe steht etwas verloren am Rand und arbeitet die Nachrichten auf
seinem Smartphone ab.
„Der Mann des Tages ist da. Ulli hat eine kleine Frage gestellt, die viel
bewegt hat“, sagt der Organisator, schnittiges weißes Hemd, die blonden
Haare nach hinten gegelt. Applaus. Der Beamer nimmt seinen Dienst auf, das
Video vom Montag wird abgespielt, es beginnt mit der Frage von Köppe an die
Kanzlerin. „Ein historischer Moment“, sagt einer im Wohnzimmer. Jubel
bricht aus. Ulli Köppe verschwindet, bevor der Film anfängt.
Im August 2001 tritt das von Rot-Grün erlassene Gesetz über die
eingetragene Lebenspartnerschaft in Kraft. Es ist nur ein Torso, viele
Rechte müssen vom Bundesrat abgesegnet werden. Dort blockiert die Union. In
der entscheidenden Bundestagsdebatte wetterte der CSU-Rechtsaußen Norbert
Geis gegen den Angriff auf die Gesellschaft und Familie. Auch
SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, eine prominente Protestantin,
bremst.
Beck gießt sich in seinem Büro ein Glas Wasser ein. „Mir war klar: Nur wenn
wir minutiös alle Pflichten in das Gesetz schreiben, können wir später
fordern, dass wir auch alle Rechte wollen.“ Ob das allein seine Idee ist?
Unklar. Aber mit diesem Gedanken legt Beck den entscheidenden Grundstein.
Die Schwulen und Lesben gehen in Vorleistung. Sie bekommen die Pflichten,
aber kaum Rechte. Dafür haben sie jetzt ein gutes Argument für Talkshows
und Gerichte, gleiche Rechte für alle zu fordern. 2001 scheitern die
unionsgeführten Länder Bayern, Sachsen und Thüringen mit einer
Normenkontrollklage vor dem Verfassungsgericht. Später zwingen die Richter
in Karslruhe die Regierungen unter Merkel, die Lebenspartnerschaft an die
Ehe anzugleichen. Schwule und Lesben bekommen gleiche Rechte bei der
Hinterbliebenenrente, bei der Erbschaft- und Schenkungssteuer und beim
Ehegattensplitting. Sie dürfen seit 2013 das Kind oder Adoptivkind ihrer
Partnerin oder ihres Partners adoptieren. Die gemeinsame Adoption eines
Kindes ist nicht möglich. Das wird sich jetzt ändern.
## Donnerstag, 9.30 Uhr, Berlin-Mitte
Im Büro des Lesben- und Schwulenverbands stapeln sich Ordner in Regalen, in
der Mitte haben sie vier Tische zu einem großen zusammengestellt. Der
Verein der ausländischen Presse hat Ulli Köppe zu einer Pressekonferenz
geladen. Volker Beck sollte auch kommen. Er hat dann noch abgesagt. Ulli
Köppes Lächeln verschwindet wieder für einen kurzen Moment. Kennengelernt
hätte er ihn jetzt schon gerne. Dafür sitzen hier die Vorstände des Vereins
und Stefan Kaufmann, einer der wenigen offen schwulen
Bundestagsabgeordneten der CDU. Ulli Köppe redet wieder über die Kanzlerin:
„Ich mag ihr diplomatisches Denken, ihren Einsatz für Europa.“ Die
Journalisten haken nach. Der Mann, der die Kanzlerin in Schwierigkeiten
brachte, soll ein Merkel-Fanboy sein? „Sie ist eben meine Kanzlerin bei
Themen wie Sozialpolitik, Steuern, Europa“, sagt Ulli Köppe.
Eine Journalistin vergleicht Köppe mit dem Mann, der 1989 SED-Funktionär
Günter Schabowski fragte, wann die neuen Regeln zur Reisefreiheit in Kraft
treten, worauf dieser „Nach meiner Kenntnis ist das sofort“ antwortete.
„Die Ehe für alle sollte man auf keinen Fall mit dem Mauerfall
vergleichen“, sagt Köppe. Das sei damals schon eine Nummer größer gewesen.
Als die Grünen ihren Parteitag vor zwei Wochen inszenieren, landet Beck
noch mal einen Coup für die Ehe für alle. Er streitet mit dem Vorstand
darüber, einen Satz ins Wahlprogramm zu schreiben, der die Reform zur
Bedingung für eine Koalition macht. Das passt eigentlich nicht in die
Strategie der Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir. Sie
wollen die Ehe für alle auch, haben das in Interviews mehrfach gesagt. Aber
unverhandelbare rote Linien soll es nicht geben, die Grünen-Spitze will in
Koalitionsverhandlungen flexibel bleiben. Doch Beck lässt sich nicht von
den Emissären des Vorstands erweichen. Dahinter steckt eine nüchterne
Überlegung. Erstens hätte er die Abstimmung auf dem Parteitag
wahrscheinlich gewonnen, die Grünen lieben solche klaren Signale. Zweitens
ist die Ehe für alle, die eine große Mehrheit der Deutschen gut findet,
kein echtes Risiko für Koalitionsverhandlungen. Am Ende übernimmt der
Vorstand Becks Satz ohne Änderung. Keiner hat Lust, gegen die Ehe für alle
zu reden.
Wenig später erklärt FDP-Chef Christian Lindner, er werde seiner Partei
empfehlen, die Ehe für alle zur Koalitionsbedingung zu machen. Dann folgt
die SPD. Plötzlich ist Merkels Union isoliert – und stünde bei einem
starren Nein ohne Koalitionspartner da.
## Freitag, 7.50 Uhr, Nordeingang Reichstag
Seit zwanzig Minuten hat Ulli Köppe Interviews gegeben, nun ist er endlich
durch den Security-Check. Da sieht er die Kanzlerin. Blauer Blazer,
schneller Schritt. „Ob ich sie um ein Foto bitten soll?“ Er blickt sich ein
paarmal um, unsicher. „Frau Merkel, könnten ich ein Foto machen?“ Die
Kanzlerin lächelt, lehnt freundlich ab. Jetzt passe es gerade nicht. „Ob
sie mich wohl erkannt hat?“
## Freitag, 8.00 Uhr, Pressetribüne
Die Debatte beginnt, Köppe sitzt am Rand der Pressetribüne und hört den
Rednern zu. Manchmal nickt er, macht ein Selfie. Die ersten Journalisten
erkennen ihn, schicken ihre Kamerateams und Fotografen. Er posiert für
Bilder, gibt Interviews, Dutzende innerhalb von 45 Minuten. „Ich bekomme
gar nichts mit“, sagt er in einer Pause.
## Freitag, 8.58 Uhr, vor der Pressetribüne
Merkel hat mit Nein gestimmt. „Ein bisschen enttäuscht bin ich schon, aber
dann ist das eben so. Ich mag sie trotzdem“, sagt Köppe.
## Freitag, 9.15 Uhr, vor der Pressetribüne
Die Ehe für alle ist durch. Ulli Köppe erfährt das während eines
Interviews. Er sagt dann später noch, dass er und sein Freund es sich doch
noch mal überlegen wollen, das mit dem Heiraten.
Volker Beck hat gewonnen.
30 Jun 2017
## AUTOREN
Ulrich Schulte
Paul Wrusch
## TAGS
Ehe für alle
Schwerpunkt Volker Beck
Schwerpunkt Angela Merkel
Paragraf 175
Ehe für alle
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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Lesestück Meinung und Analyse
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