# taz.de -- Kommentar Öffnung der Ehe: Ehe für alle, Ehe für keinen | |
> In einem konservativen Club mitmachen zu dürfen, ist nicht nur Grund für | |
> ausgelassenen Jubel. Es gibt genug Kritik am Institut der Ehe. | |
Bild: Kettenglieder, auf ihren Einsatz wartend | |
Es ist so gemütlich, konservativ zu sein. Man lebt einfach, wie es gestern | |
als richtig galt, und wenn das nicht mehr geht, ändert man seine Meinung | |
und behauptet, das habe man schon immer so gesehen. So war es bei der | |
Atomkraft, so war es in der Asylpolitik. Und so ist es nicht erst, seit | |
Merkel Kanzlerin ist. Die Sozialversicherung, die Fünf-Tage-Woche: von | |
Progressiven erkämpft, von Konservativen vereinnahmt. | |
Es ist echt anstrengend, progressiv zu sein, immer wieder muss man von | |
vorne anfangen. Seit dieser Woche gibt es ein neues Beispiel für einen | |
linken Pyrrhussieg. Da kämpft man so lange für Gleichberechtigung von | |
Homosexuellen, wird als Gefahr für Kinder beleidigt und diskriminiert, bis | |
selbst die Kanzlerin handeln muss. Ein Erfolg, der gefeiert gehört. Und | |
doch geht im Jubel unter, dass die Ehe erst mal nichts Fortschrittliches | |
ist. | |
In die Euphorie hinein ist es deshalb leider nötig, dass einer die | |
Spaßbremse macht. Achtung, Achtung: Wer mit wem zusammenlebt, ob kurz oder | |
lang, ob zu zweit oder zu fünft, geht niemanden etwas an, schon gar nicht | |
den Staat. | |
Es ist nicht seine Aufgabe, bestimmte Lebensformen zu fördern und | |
bevorzugen. Der Bundestag hat den Paragrafen 1353 des Bürgerlichen | |
Gesetzbuches für homosexuelle Paare geöffnet. Endlich! Doch die Ehe erfährt | |
dadurch eine Aufwertung, die sie nicht verdient hat. Sie benachteiligt | |
unverheiratete Paare, egal ob hetero oder homo. Paare, die sich | |
entscheiden, nicht zu heiraten, weil sie die Ehe überkommen finden. | |
Politik besteht immer aus Etappenzielen. Deswegen ist die Gleichstellung | |
von homosexuellen Paaren ein Erfolg. Solange Privilegien an die Ehe | |
geknüpft sind, müssen auch Homopaare in ihren Genuss kommen. Aber die | |
nächste Etappe ist auch klar: Es ist Zeit, die Eheprivilegien abzuschaffen. | |
## Wie aus dem Heimatfilm | |
Denn es gibt Alternativen. Das Besuchsrecht im Krankenhaus, Adoptionsrecht, | |
Hinterbliebenenrente, all das könnte man auch ohne die Ehe klären. Ganz | |
nüchtern-bürokratisch auf dem Amt, wie es heute schon beim Sorgerecht und | |
der Vaterschaftserklärung für nichtverheiratete Heteropaare der Fall ist. | |
Das größte Privileg der Ehe, das Ehegattensplitting, ist nichts anderes als | |
ein familienpolitischer Skandal. Paare werden finanziell dafür belohnt, | |
dass sie ungleich verdienen, dass ein Partner arbeiten geht und der andere | |
zu Hause bleibt. Ein Gesetz, das so altbacken daherkommt, als sei es aus | |
einem Heimatfilm entsprungen. | |
Man reibt sich die Augen, schaut auf den Kalender und wundert sich: Es ist | |
wirklich 2017. 15 bis 20 Milliarden Euro gibt der Staat für diese | |
Antiquität im Jahr aus. Man könnte mit diesem Geld, plakativ gesprochen, | |
Kitas, Schulen und Sporthallen bauen. Genauso gut aber auch Autobahnen. | |
Denn Infrastruktur gehört zu den Aufgaben des Staates, Liebesbeziehungen | |
nicht. | |
## Reich oder bescheuert | |
Wer um die dreißig ist, darf die Hälfte des Sommers auf Hochzeiten | |
verbringen, selbst in urbanen liberalen Milieus wird geheiratet, als müsste | |
man das noch, um endlich Sex zu haben. Der halbe Sommer geht für diese | |
Hochzeitsfeiern drauf, und irgendwann, wenn alle schon betrunken sind, | |
fragt auch die letzte entfernte Tante: „Und wann heiratet ihr eigentlich?“ | |
Als Mensch mit Kindern und ohne Ehering muss man sich rechtfertigen, man | |
muss komplett bescheuert oder einfach reich sein, um standfest beim Nein zu | |
bleiben. Befreundete Paare ohne Kinder heiraten und sparen jedes Jahr | |
Tausende Euro an Steuern. Andere Freunde erzählen, Heiraten sei doch | |
eigentlich feministisch, weil der Arzt damit seine studierende Freundin | |
finanziell absichert. Da nickt man dann und grinst höflich und schenkt sich | |
lieber noch ein bisschen Wein ein. | |
In der vergangenen Woche haben sich SPD, Grüne und Linke selbst um ein | |
Wahlkampfthema gebracht. Sie hätten ihre Zustimmung zur Ehe für alle an | |
eine Abschaffung der Eheprivilegien knüpfen können. Jetzt ziehen sie ohne | |
eine visionäre Forderung in den Bundestagswahlkampf. Sie lassen sich für | |
die Ehe für alle feiern, die Eheprivilegien aber lassen sie weitgehend | |
unangetastet. | |
## Der Wesenskern der Ehe | |
Mit der Ehe für alle wird die ewige und exklusive Beziehung zwischen zwei | |
Menschen weiter idealisiert, dabei stirbt sie längst einen langsamen Tod. | |
Die Zahl der Scheidungen steigt, die der unehelichen Kinder auch. Die | |
katholische Kirche sollte den Homos dankbar sein, dass sich im Jahr 2017 | |
überhaupt noch jemand für ihr Beziehungsmodell einsetzt. | |
Erst seit dem 19. Jahrhundert gibt es die bürgerliche Ehe jenseits der | |
Kirche. Ohne sie wäre die Durchsetzung des Kapitalismus nicht denkbar | |
gewesen, sie schrieb die Ausbeutung der Frau durch unbezahlte Arbeit zu | |
Hause fest. Bis in die siebziger Jahre durften Männer für ihre Frauen | |
entscheiden, ob sie arbeiten dürfen, bis in die Neunziger war die | |
Vergewaltigung im Ehebett erlaubt. Das ist kein historischer Fehler, | |
sondern Wesenskern der Ehe. | |
Für den Staat ist die Ehe bis heute ein wesentlicher Hebel, um zu | |
entscheiden, was öffentlich und was privat ist. Homos führen oft | |
fortschrittlichere, gleichberechtigtere Beziehungen, was auch an der | |
jahrzehntelangen Diskriminierung durch die Mehrheit liegt. Mit der Ehe für | |
alle werden diese Beziehungen nun staatlich eingehegt. Homopaare können | |
bald genauso einen Hausmann und einen Großverdiener bestimmen. Damit | |
erfüllen sie im Zweifel genau die Wertvorstellungen, die Konservative von | |
der Ehe erwarten. | |
## Praktisch für den Staat | |
„Familien und Paare sind sozialer Klebstoff – und praktisch für den | |
Staat“, kommentierte der Tagesspiegel lobend die Ehe für alle. Aber | |
fortschrittlich denkende Menschen sollten nicht praktisch für den Staat | |
sein und kleben bleiben. | |
In einem konservativen Club mitmachen zu dürfen, ist nicht nur Grund zum | |
ausgelassenen Jubel. Es ist nicht fortschrittlich, ein Modell von Heteros | |
zu übernehmen, das Ungleichheit begünstigt und den Menschen nicht frei, | |
sondern abhängig macht. | |
Die Vision von Progressiven ist der freie Mensch, oder, pathetisch und mit | |
Marx gesprochen, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein | |
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen | |
ist“. Erniedrigt, geknechtet, verlassen, das dürfte vielen Verheirateten | |
bekannt vorkommen. | |
Jeder darf lieben, wen er will. Die Gleichberechtigung hat wieder einen | |
Erfolg errungen, und das kann heute gefeiert werden. Ab morgen müssen wir | |
dann wieder von vorne anfangen. | |
30 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
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