# taz.de -- Machtkampf in Palästina: In Gaza geht das Licht aus | |
> Strom hat Familie Murad nur für Stunden, Abwasser läuft ungeklärt ins | |
> Meer. Unter dem Streit von Fatah und Hamas leiden Mensch und Natur. | |
Bild: Schwimmutensilien kann man am Strand in Gaza kaufen – aber Baden sollte… | |
Gaza-Stadt taz | „Unser großes Glück ist, dass wir den Ozean haben.“ | |
Monther Shoblaq schaut von seinem Büro im dritten Stock auf eine grüne | |
Wiese, dahinter ist schon das Mittelmeer. „Du stellst dich vor den Ozean, | |
guckst auf den Horizont und vergisst das riesige Gefängnis hinter dir.“ Der | |
palästinensische Mittfünfziger ist Umweltingenieur, Vater von fünf Söhnen | |
und Generaldirektor des Wasserversorgungsamtes in Gaza. Er braucht das | |
Meer, nicht nur für sein seelisches Wohlbefinden. Er arbeitet damit. | |
Siphon wird die Methode zur Abwasserentsorgung genannt, die ohne Klärwerk | |
auskommen muss. „Wenn der Strom für eine angemessene Reinigung nicht | |
ausreicht, nehmen wir das gesamte Abwasser und leiten es in den Ozean“, | |
erklärt Shoblaq. Immer wieder mangelt es an Strom im Gazastreifen, schon | |
seit zehn Jahren. Seit zwei Monaten zwingt die Energiekrise Shoblaq dazu, | |
dauerhaft auf die Entsorgung per Siphon zurückzugreifen. | |
Der Gazastreifen hat 40 Kilometer langen feinsten Sandstrand. Die | |
Temperaturen liegen zwischen 30 und 40 Grad. In knapp einer Woche fangen | |
die Sommerferien an. An seiner breitesten Stelle ist der Gazastreifen 14 | |
Kilometer breit, an der schmalsten nur 6. Das Meer ist für jeden | |
erreichbar, mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß. Eigentlich verspricht es | |
also Abkühlung und Badespaß – nur nicht in diesem Jahr. Auch ohne das | |
Verbot des städtischen Gesundheitsamtes wagt sich kaum jemand in die Nähe | |
der stinkenden Brühe. | |
An der gesamten Küste verfärbt das Abwasser das Meer auf den ersten vier | |
bis fünf Metern dunkelbraun. Erst danach ist die natürliche Farbe des | |
Wassers wieder zu erahnen. „Die Leute hier leiden“, sagt Shoblaq. „Sie | |
können nicht schwimmen, nicht fischen, nicht zum Strand gehen.“ Auch für | |
die Israelis sei die Umweltbelastung ein Problem: Die Strömung geht nach | |
Norden, Richtung Israel also. | |
Was den Umweltingenieur aber besonders traurig stimmt, ist die | |
Verschwendung. „Gaza produziert täglich 150.000 Kubikmeter Abwasser“, sagt | |
er, „das ist für uns eine nationale Ressource – und wir werfen das einfach | |
weg“. Eine fachgerechte Reinigung könnte Dreckwasser wieder in Sprengwasser | |
für die Landwirtschaft oder in einem langen Prozess sogar wieder in | |
Trinkwasser verwandeln. | |
## Palästinenser gegen Palästinenser | |
Grund für Gazas Energiekrise ist ein Machtkampf. Palästinenserpräsident | |
Mahmud Abbas von der Fatah im Westjordanland wolle die Führung der | |
verfeindeten und islamistischen Hamas im Gazastreifen zur Kapitulation | |
zwingen, so verlautet es ganz unverblümt aus Ramallah, wo Fatah-Chef Abbas | |
die Geschäfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) führt. Deshalb | |
zahlt der Palästinenserpräsident nur noch etwa die Hälfte der | |
Stromrechnungen, die Israel für seine Energielieferungen stellt. | |
Zehn Jahre sind es nun schon, seit die Hamas erkämpfte, was ihr mit dem | |
Sieg bei den Parlamentswahlen eigentlich zustand: Kontrolle. Mit Gewalt | |
zwangen die Hamas-Kämpfer die Fatah-Führung zur Flucht aus Gaza, allen | |
voran die Militärkommandanten. Der Rest des Sicherheitsapparats, der von | |
der Palästinensischen Autonomiebehörde aus Ramallah bezahlt wurde, musste | |
seine Waffen abgeben und nach Hause gehen. Für Ordnung sorgen seitdem die | |
schwarz uniformierten Polizisten der Hamas. | |
Abbas beschuldigt die Hamas, „ein Schattenkabinett“ zu führen, das von der | |
PA Geld verlangt, aber nicht mit ihr kooperiert. Damit soll nun Schluss | |
sein. Schritt für Schritt kürzt Abbas die Zuwendungen, und Israel zieht | |
mit. „Was in Gaza vor sich geht, ist ein interner Kampf zwischen Hamas und | |
Fatah“, kommentierte Israels Verteidigungsminister Avigdor Lieberman. Nur | |
wer die Rechnung bezahlt, bekommt von Israel Strom. Was geschäftlich | |
logisch erscheint, heißt für zwei Millionen Palästinenser: Sie müssen im | |
Dunkeln ausharren. | |
Israelische Sicherheitsexperten fürchten, dass sich der Unmut der | |
Eingeschlossenen Luft machen wird, in einen Aufstand gegen die | |
Hamas-Führung enden könnte und möglicherweise zu einem weiteren Krieg gegen | |
Israel führt. | |
## Abbas kürzte Gehälter | |
Familie Murad verbringt den Tag mit offenen Türen in der Hoffnung, dass hin | |
und wieder ein Luftzug die unerträgliche Hitze vertreibt. „Wir können | |
unsere Klimaanlage nicht betätigen, wir haben noch nicht mal einen | |
Ventilator oder auch nur kaltes Wasser.“ Adnan Murad ist von Abbas’ | |
Kürzungen doppelt betroffen. Bis zur Machtergreifung der Hamas gehörte der | |
junge Familienvater zum Sicherheitsapparat der PA und verdiente als | |
Polizist rund 1.500 Euro, auch nachdem die Hamas ihn in den Ruhestand | |
zwang. | |
Die Autonomiebehörde bezahlt die 50.000 bis 60.000 Fatah-nahen Beamten im | |
Gazastreifen weiter, obwohl nur noch wenige arbeiten. Vor drei Monaten aber | |
ließ Abbas die Beamtengehälter um ein Drittel kürzen. | |
Murad bekommt seither nur noch knapp 1.000 Euro im Monat, muss aber | |
gleichzeitig mehr bezahlen: Für Strom aus dem Generator, der „gerade mal | |
ausreicht für ein paar Lampen und den Fernseher“, sagt Murad. Der Strom ist | |
siebenmal so teuer wie der aus dem städtischen Netz. Hinzu kommen die | |
Kosten für Wasser, denn aus dem Hahn fließt nur alle vier Tage | |
Frischwasser, und dann auch nur zwei Stunden lang. | |
Wenn es zufällig zeitgleich Strom gibt, dann kann die Familie den | |
Wasserbehälter auf dem Dach füllen, als Vorrat. Wenn nicht, muss die | |
Familie Frischwasser von privaten Entsalzungsgesellschaften kaufen, die mit | |
Pumpen und Generatoren ausgerüstete Lastwagen haben. | |
## Als Vorrat nur Geräuchertes | |
„Sobald der Strom angeht, springen alle auf“, sagt Samah Murad, Adnans | |
Frau. Als Erstes schaltet sie die Waschmaschine an, dann versuchen alle, | |
ihre Handys aufzuladen. Zwischen 8 und 11.30 Uhr morgens gab es bislang | |
Strom und nocheinmal kurz vor Mitternacht, dann drei bis vier Stunden lang. | |
Die Murads zählen mit ihren regelmäßigen Einnahmen und ihrem eigenen | |
kleinen Haus trotz der Energiekrise und trotz der jüngsten Gehaltskürzungen | |
zu den privilegierteren Menschen im Gazastreifen. Die Mehrheit ist | |
arbeitslos und ohne Einkünfte. „Wir haben unser Auto verkauft und können | |
uns nicht mehr leisten, an Festtagen die Verwandtschaft einzuladen“, sagt | |
Adnan Murad und klingt erschöpft. | |
Außerdem muss der 20-jährige Hazem, der älteste Sohn, die Familie | |
unterstützen. Hazem will Elektriker werden. Sobald ihm seine Ausbildung | |
dafür Zeit lässt, trocknet er Fisch und Fleisch in einem kleinen Holzofen. | |
In der Hitze hält sich kaum etwas anderes als Geräuchertes. „Wir kaufen | |
Nahrungsmittel nie mehr auf Vorrat“, sagt Vater Adnan Murad, „immer nur so | |
viel, wie wir gleich verbrauchen“. | |
Die Luft in Gaza flimmert in der Mittagssonne, der Dunst von Abwasser und | |
Generatorenabgas wabert. Die Leute sind müde und wütend vor allem auf die | |
eigene Führung, auf Israel und Ägypten, die beiden Nachbarn, die die | |
Grenzen geschlossen halten, und viele auf Abbas. | |
Murad hingegen zeigt Verständnis für den Palästinenserpräsidenten. „Erst | |
wenn die PA die Kontrolle übernimmt, können wir wieder normal hier leben.“ | |
Sein Sohn Hazem nickt. „Wenn die Hamas unter Druck steht, wird sie die | |
Fatah nach Gaza zurückkehren lassen.“ | |
## Die Tricks des Ex-Geheimdienstchefs | |
Abbas ist im Zugzwang. Mohammad Dahlan ist sein schärfster | |
innerparteilicher Gegner. Er droht damit, nach Gaza zurückzukehren. Der | |
einst gefürchtete Chef des Fatah-nahen Geheimdiensts im Gazastreifen musste | |
vor der Hamas fliehen und später auch aus dem Westjordanland, wo er in | |
Ungnade fiel bei Abbas. Dort ging das Gerücht um, er sei an der tödlichen | |
Vergiftung des früheren Palästinenserchefs Jassir Arafat beteiligt gewesen. | |
Der Weg zurück nach Gaza öffnete sich für Dahlan mit der Wahl von Jihia | |
al-Sinwar zum neuen Hamas-Chef Anfang des Jahres. Die beiden wuchsen | |
zusammen in einem Flüchtlingslager auf. Der Pakt zwischen den Freunden aus | |
den zerstrittenen Fraktionen ist für beide ein Gewinn. | |
Dahlan verfügt über gute Beziehungen zur ägyptischen Führung, er setzte | |
sich erfolgreich dafür ein, dass die Grenze sporadisch geöffnet wird und | |
dass Ägypten jüngst eine Million Liter Treibstoff lieferten. Al-Sinwar soll | |
umgekehrt dafür sorgen, dass Dahlan von der Hamas nicht sofort an die Wand | |
gestellt wird, wenn er in den Gazastreifen zurückkehrt. | |
Ganz geheuer ist der Dahlan-Hamas-Pakt dem Generaldirektor des | |
Kulturministeriums in Gaza, Mustafa Sawaf, nicht. „Er macht uns keine | |
Angst“, sagt der Hamas-Mann über den ungeliebten Partner, es klingt nicht | |
sehr überzeugend. Vorläufig begrüße er Dahlans Anstrengungen, die Krise im | |
Gazastreifen einzudämmen. Wo Interessen sind, sei alles möglich, sagt Sawaf | |
und räumt ein, dass „Dahlan den Schlüssel zu Kairo in der Hand hält“. | |
## Hoffen auf Hilfe aus Ägypten | |
Mit seiner Hilfe werde die Hamas-Führung in Gaza verhindern, dass Abbas | |
dort wieder die Kontrolle übernimmt. „Hamas wird sich niemals in die Knie | |
zwingen lassen.“ | |
Sawaf ist Anfang 60, trägt einen gepflegten grauen Vollbart und sitzt im | |
Sessel seines Empfangszimmers, in dem eine Neonlampe leuchtet, obwohl es | |
mitten am Tag ist. Er schimpft. Auf Israel, die arabischen Staaten, die | |
nichts dafür täten, die Blockade aufzubrechen, auf die Autonomiebehörde und | |
auf die internationale Gemeinschaft, die sich mit ihrem Schweigen an der | |
Misere der Menschen in Gaza mitschuldig mache. Am Ende ginge es um größere | |
Ziele, um „die Nation, um unsere heiligen Kultstätten und um die Freiheit. | |
Deshalb sind wir geduldig.“ | |
Sawaf hofft auf Ägyptens Hilfe. Kairo werde bald nicht nur Treibstoff | |
liefern, sondern auch andere Waren. Zwei Millionen Palästinenser | |
bedeuteten auch für Ägypten einen attraktiven Absatzmarkt. Während Sawaf | |
über die rosige Zukunft Gazas schwärmt, fängt das Licht in der Neonlampe an | |
zu zittern. Schließlich geht es ganz aus. | |
5 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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