| # taz.de -- Afghanische Flüchtlinge: Mit deutscher Sicherheit | |
| > Im Oktober 2016 erklärte Innenminister de Mazière einige Regionen | |
| > Afghanistans für sicher. Viele Flüchtlinge kämpfen seitdem gegen ihre | |
| > Abschiebung. | |
| Bild: Afghanistan ist so sicher, dass Innenminister Thomas de Maizière immer e… | |
| Leipzig taz | „Aufgeregt?“, fragt Rechtsanwalt Thomas Könneker, ein | |
| kleiner, wendiger Mann mit wenigen Haaren und wenig Zeit. „Ein bisschen“, | |
| flüstert Tahera H. leise. Sie versucht zu lächeln, doch es gelingt ihr | |
| kaum. „Denken Sie daran, viel reden, konkret werden, nicht über Afghanistan | |
| im Allgemeinen sprechen, sondern über Sie im Speziellen“, rät Könneker | |
| noch. | |
| Tahera H. und ihr Mann Mohammad stehen an diesem Nachmittag viel zu früh | |
| vor dem Verwaltungsgericht im Leipziger Stadtteil Leutzsch, das wie ein | |
| Märchenschloss anmutet. In einem Nebengebäude wird das afghanische Ehepaar | |
| gleich einer Richterin seine Geschichte vortragen. Das Bundesamt für | |
| Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat den Antrag der beiden auf Asyl | |
| abgelehnt, ebenso den subsidiären Schutz. Dieser wird erteilt, wenn den | |
| Flüchtlingen in ihrer Heimat gravierende Konsequenzen wie etwa die | |
| Todesstrafe drohen. Vom Amts wegen gibt es für das Paar auch keine | |
| Abschiebehindernisse, darunter fallen zum Beispiel schwerwiegende | |
| Krankheiten. | |
| Hätte das Ehepaar nicht binnen zwei Wochen Widerspruch eingelegt, müsste es | |
| Deutschland in den nächsten 30 Tagen verlassen. Doch es hat sich | |
| juristische Hilfe geholt, Thomas Könneker ist auf Asyl- und Ausländerrecht | |
| spezialisiert. Er schätzt, dass er mittlerweile mehr als 100 afghanische | |
| MandantInnen betreut. Tahera und Mohammad haben sich gut angezogen für | |
| ihren Termin heute: Mohammad trägt ein kariertes Hemd, Tahera ein | |
| blauviolettes Mantelkleid über der schwarzen Hose und ein mit Goldfäden | |
| besticktes Kopftuch. Während sie darauf warten, hineingehen zu dürfen, | |
| blickt Tahera zu Boden. Später wird sie ihre Fluchtgeschichte pointierter, | |
| präziser und logischer erzählen als ihr elf Jahre älterer Ehemann. Jetzt | |
| aber erinnern ihre Bewegungen und Gesten mehr an die eines Kindes als an | |
| die einer 33-jährigen Frau. | |
| Ihr Termin ist keiner für den großen Saal im Verwaltungsgericht, keine | |
| große Geschichte. Das Paar hat sich nicht politisch engagiert, nicht mal | |
| Kinder sind im Spiel. Mohammad und Tahera H. sind zwei von insgesamt 1.696 | |
| afghanischen Staatsangehörigen, die derzeit in Leipzig leben. Durch das | |
| sogenannte Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und Afghanistan vom | |
| Oktober 2016 hat sich die Lage von vielen von ihnen verändert. In vier | |
| Sammelabschiebungen sind seit Dezember 2016 bereits 106 Menschen an den | |
| Hindukusch abgeschoben worden. Das sorgt für erhebliche Unruhe innerhalb | |
| der afghanischen Community. „Die haben jetzt alle furchtbare Angst“, sagt | |
| Thomas Könneker. Während 2015 noch 78 Prozent aller afghanischen | |
| Asylanträge angenommen wurden, sind es jetzt nur noch 52 Prozent. | |
| Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist der Auffassung, dass es in | |
| Afghanistan sichere Regionen gibt, in die abgeschoben werden kann. Sachsen | |
| mit seiner CDU-geführten Landesregierung, allen voran Innenminister Markus | |
| Ulbig, hatte sich dieser Linie angeschlossen. Doch dann starben am 31. Mai | |
| 2017 bei einem Anschlag im Kabuler Diplomatenviertel mehr als 150 Menschen. | |
| Abschiebungen nach Afghanistan sind seitdem offiziell ausgesetzt, | |
| Straftäter und sogenannte Gefährder ausgenommen. Auch darin folge Sachsen | |
| der bundespolitischen Linie, teilt die für Abschiebungen zuständige | |
| Landesdirektion auf Anfrage mit. | |
| Der geplante Abschiebeflug von Leipzig nach Kabul am gestrigen Mittwoch | |
| wurde indes zwar abgesagt. Zu keiner Zeit ausgesetzt waren jedoch die | |
| Entscheidungen über die Anträge afghanischer Asylsuchender. Entschieden | |
| wird auch weiterhin. | |
| ## Keine Rücksicht auf die Geflüchteten | |
| Obwohl das Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR im Dezember | |
| 2016 festgestellt hat, dass das gesamte Staatsgebiet Afghanistans von einem | |
| „innerstaatlichen, bewaffneten Konflikt“ im Sinne des europäischen | |
| Flüchtlingsrechts betroffen sei, ignoriert de Mazière diese Einschätzung. | |
| Die Sicherheitslage in Afghanistan erlaube in einigen Regionen | |
| grundsätzlich eine Rückkehr ausreisepflichtiger afghanischer | |
| Staatsangehöriger, schreibt er am 9. Januar 2017 in einer E-Mail den | |
| Landesinnenministern. Als Grund für die intensivierten Bemühungen, Menschen | |
| abzuschieben, nennt er auch den Anschlag vom Breitscheidplatz in Berlin am | |
| 19. Dezember 2016. | |
| „Eine tatsächliche Neubewertung der Sicherheitslage kann nur zu dem Schluss | |
| kommen, dass Afghanistan nirgendwo sicher ist“, sagt hingegen Thomas | |
| Hoffmann vom Sächsischen Flüchtlingsrat. Ausgesetzt seien die Abschiebungen | |
| vor allem aus Rücksicht auf die Botschaftsangehörigen, nicht aus Rücksicht | |
| auf die Geflüchteten, kritisiert er. Die deutsche Botschaft war bei dem | |
| Anschlag schwer beschädigt worden und ist noch nicht wieder voll | |
| arbeitsfähig. Niemand in der Geflüchteten-Beratung gehe davon aus, dass | |
| sich an der bisherigen Haltung der Bundesregierung grundsätzlich etwas | |
| ändert, sagt Hoffmann. „Da wird sich weiter auf die sicheren Regionen und | |
| auf das Narrativ berufen, dass Zivilisten ja nur Opfer und nicht Ziel der | |
| Anschläge seien. Als ob das am Ende einen Unterschied macht“. | |
| Das wissen auch die afghanischen Flüchtlinge, die allmählich Widerstand | |
| üben und mehrere Demonstrationen in Leipzig und auch kürzlich in Dresden | |
| organisiert haben. „Sie haben nie an einen langfristigen Abschiebestopp | |
| geglaubt“, sagt Hoffmann vom Sächsischen Flüchtlingsrat über die Afghanen | |
| hierzulande. | |
| ## Richterin entscheidet allein | |
| Auch Mohammad und Tahera H. machen sich da keine Illusionen. Wird am | |
| Verwaltungsgericht gegen sie entschieden, werden sie wohl früher oder | |
| später abgeschoben werden. „Dann wird mein Mann umgebracht“, sagt Tahera | |
| ohne den geringsten Zweifel in der Stimme. Nur wenige Stühle stehen in dem | |
| kleinen Raum, in dem die Verhandlung stattfinden wird. Richterin Tanja | |
| Lötschert betritt ihn unbegleitet, protokolliert selbst und wird auch die | |
| Entscheidung über Tahera und Mohammad H. allein treffen. Die Richterin | |
| trägt eine Brille mit schwarz umrahmten Gläsern, hat ein einnehmendes | |
| Lächeln, ihr Blick ist erwartungsvoll. Lötschert befragt das Paar getrennt | |
| voneinander, und schon bald offenbart sich eine Vorliebe für chronologische | |
| Abläufe. | |
| Vor vielen Jahren seien paschtunische Taliban in sein Dorf in der Region | |
| Behsud gekommen, beginnt Mohammad H. zu erzählen. Er klingt heiser, | |
| manchmal versagt seine Stimme am Ende eines Satzes. Er selbst gehöre zur | |
| schiitischen Minderheit der Hasara, auch deshalb sei er ins Visier der | |
| Taliban geraten. Sie hätten seine Felder geplündert und sich dann dort | |
| ausgebreitet. Er habe sich beschwert, beteuert er, Anzeige erstattet. „Wann | |
| war das eigentlich?“, fragt Tanja Lötschert. „Bevor Karsai Präsident war, | |
| noch während der Taliban-Herrschaft“, antwortet Mohammad H. Die Richterin | |
| gibt das zu Protokoll, doch ist ihr anzumerken, dass sie eine konkretere | |
| Zeitangabe mehr schätzen würde. Was sie hören will, sind Daten, Fakten und | |
| logische Kontexte. Was ihr stattdessen berichtet wird, ist die traurige | |
| Geschichte eines Mannes, der glaubt, es käme mehr darauf an, was ihm | |
| passiert ist, als wie und wann es geschah. | |
| Weil er keine Felder mehr hatte, floh Mohammad H. wohl Anfang der 2000er | |
| Jahre nach Kabul. Von den Fahrern, die zwischen seiner Heimat und der | |
| Hauptstadt pendelten, erfuhr das Ehepaar Ende 2014, dass die Taliban jetzt | |
| aktiv nach ihm suchen würden. Dass sie mit Fotos nach Mohammad H. | |
| fahndeten. „Haben sie was Konkretes?“, hakt Lötschert nach. Verwirrt blickt | |
| Mohammad H. seinen Dolmetscher an. „Es ist klar, was die mit mir vorhaben, | |
| wenn sie mich finden“, lässt er nachdrücklich übersetzen. Warum die Taliban | |
| erst nach 14 Jahren begonnen hätten, nach ihm zu suchen, will Lötschert | |
| dann wissen. Mohammad H. erklärt es sich damit, dass die Taliban nur | |
| allmählich erstarkten und die logistischen Möglichkeiten dazu hätten. Heute | |
| seien die Extremisten überall, fügt er hinzu. | |
| Oft beantwortet er die Frage nicht so, wie Lötschert sich das vorzustellen | |
| scheint. Wahrscheinlich, weil er nicht weiß, worauf die Richterin | |
| hinauswill. Er klingt dann verärgert, raunzt seinen Übersetzer an, der es | |
| ihm noch einmal erklärt. Für umgerechnet 8.000 US-Dollar verkaufte das | |
| Ehepaar sein Haus, bevor es 2015 nach Deutschland floh. Falls es | |
| zurückmüsse, sei es mittellos, sagt Mohammad H. | |
| ## Chancen stehen 50 zu 50 | |
| Beide wollen sie in Leipzig bleiben. Sie fühlen sich wohl, sagen sie, | |
| obwohl sie seit fast zwei Jahren in einer Gemeinschaftsunterkunft im | |
| Stadtteil Plagwitz leben. Die Wohnungssuche gestaltet sich für die beiden | |
| problematisch. „Für Menschen, die noch im Asylverfahren stecken oder nur | |
| eine Duldung bekommen haben, ist die Wohnungssuche extrem schwierig“, sagt | |
| Dana Ersing. Eine Duldung, erklärt sie, erhalten Asylbewerber, wenn | |
| Abschiebungshindernisse vorliegen, während des Asylverfahrens verfügt man | |
| über eine Gestattung. Ersing ist eine der Initiatorinnen der „Kontaktstelle | |
| Wohnen“, die Flüchtlingen Paten zur Seite stellt, um sie bei der | |
| Wohnungssuche zu begleiten. „Bei einer Aufenthaltsgestattung für sechs | |
| Monate gibt einem kein Vermieter eine Wohnung“, sagt sie. In dieser Zeit | |
| sind die Geflüchteten außerdem dem Sozialamt unterstellt, das nur 304 Euro | |
| für eine Bleibe zahlt. Bei den Jobcentern, die für angenommene Asylbewerber | |
| zuständig ist, sind es immerhin 328 Euro. Und so leben 599 afghanische | |
| Geflüchtete nach wie vor in Gemeinschaftsunterkünften. | |
| Als die Verhandlung in Leutzsch geschlossen wird, beginnt Tahera H. zu | |
| weinen. Immer wieder schiebt sie sich einzelne Haare penibel unter ihr | |
| Kopftuch, fährt dann mit der Hand über ihre Augen. „Wenn meinem Mann etwas | |
| zustößt, habe ich niemanden mehr in Afghanistan“, schluchzt sie. Thomas | |
| Könneker sagt: „Ich schätze Ihre Chancen 50 zu 50 ein.“ Mit einer | |
| Entscheidung rechnet er frühestens in zwei Wochen. 97.000 Klagen gegen das | |
| Bamf sind bei den Gerichten in Deutschland anhängig. | |
| 29 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Hanna Voß | |
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