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# taz.de -- Kolumne Immer bereit: Und wieso bin ich kein Neonazi?
> Dass es Rechtsextremismus in Ostdeutschland gibt, ist allein die Schuld
> der dummen Ossis – zu diesem Schluss kommt eine wissenschaftliche Studie.
> Geht's noch?!
Bild: Und noch so ein Ost-Klischee: Trabbi, Pittiplatsch und Schnatterinchen
Manchmal regt mich diese Zeitung hier echt auf. Gerade, wenn es um
ostdeutsche Themen geht. Da gab es vor einem Monat diese Studie zu der
Frage, woher eigentlich der ganze Rechtsextremismus in Ostdeutschland
kommt. Initiator war das Göttinger Institut für Demokratieforschung, das
Mitarbeiter in drei ausgewählte Nazihochburgen schickte und aus den
Ergebnissen Rückschlüsse auf das gesamte Gebiet der ehemaligen DDR zog.
Spiegel, Süddeutsche, Zeit und taz waren sich mit den Göttinger Forschern
einig, wo die Ursachen für den Rechtsextremismus in Ostdeutschland zu
suchen seien. In der Vergangenheit nämlich. „Die Sozialisation in einer
buchstäblich geschlossenen Gesellschaft wie der DDR kann als ein Faktor für
die Erklärung nicht stark genug betont werden“, schrieben sie.
Ich dachte echt, ich kotze, als ich das morgens beim Frühstück las. Da
werden aktuelle Missstände und Versäumnisse auf die Politik eines Landes
geschoben, das seit fast drei Jahrzehnten nicht mehr existiert, statt die
naheliegende Frage zu stellen, was eigentlich die Wiedervereinigung für die
Leute, die da wohnten, bedeutet hat.
Denen wurde ihre Existenzgrundlage entzogen, verdammte Scheiße! Und zwar
nicht die ideologische, wie ein paar verschnarchte Westlinke jetzt denken,
die nach’89 um ihre verlorene Utopie trauerten: „Ach Mensch, jetzt müssen
wir ja gar nicht mehr darüber nachdenken, ob wir vielleicht rübergehen.
Jetzt existiert ja das Land nicht mehr. Na ja, ich mach mal Tee.“ Und dann
bekam auch noch der letzte Westhippie mit halbfertig geschriebener
Promotion eine Professur übergeholfen, weil die Ostdozenten ja alle
ideologisch verdächtig waren.
Die Treuhand hat im Osten auf einen Streich die gesamte Infrastruktur
lahmgelegt. Funktionierende Betriebe mit vollen Auftragsbüchern wurden von
heute auf morgen geschlossen, Millionen Menschen wurden arbeitslos. Die
Bevölkerung eines ganzen Landes hatte Angst um ihre Existenz. Könnt ihr
euch das vorstellen?
Dieses Jahr im Juli werde ich 38. Ich bin jetzt genauso alt, wie meine
Mutter war, als die Mauer fiel. Und ich bin in einer sehr ähnlichen
privaten und ökonomischen Situation wie sie damals: verheiratet, beruflich
erfolgreich, einigermaßen gut bei Kasse und etabliert in einem Bereich, den
ich für mich ausgesucht habe.
Und jetzt stelle ich mir vor, Radio Eins würde morgen abgewickelt und die
taz eingestampft, Ullstein würde wegen unklarer Besitzverhältnisse bis auf
Weiteres schließen und alle Verträge eingefroren. Die Währung würde sich
ändern, mein Erspartes wäre plötzlich nichts mehr wert. Die laktosefreie
Milch, die ich seit Jahren trinke, würde aus dem Sortiment genommen und
durch komplett andere Produkte ersetzt. Und dann käme noch raus, mein
Nachbar hätte heimlich alle Nacktselfies von meinem Computer kopiert.
Ich denke, ich wäre reichlich orientierungslos. Und nun stelle ich mir vor,
ich würde mich von dem Schock erholen, mein Leben weiterleben, meine Sachen
machen, und dann käme jemand 30 Jahre später und erzählte mir über die
Wiedervereinigung, was vor einem Monat in dieser Zeitung zu lesen war: „Die
Erwartungen der Ostdeutschen seien hier ‚überzogen‘ gewesen. Als statt
Wirtschaftswunder Jobverluste eintraten, blieb ein Gefühl der ‚kollektiven
Benachteiligung‘ zurück. Bis heute bestehe in Ostdeutschland eine
‚obsessive Sorge‘, so die Autoren, die da lautet: ‚Die Fremden‘ könnten
besser wegkommen als ‚wir selbst.‘ “
Kurz gesagt: Es ist alles die Schuld der dummen Ossis. Mit aktueller
Politik hat das nur sehr bedingt zu tun, denn die Wurzel des Übels liegt
auf einem Feld, das wir nicht beackert haben. Wir müssen jetzt nur mit den
verdorbenen Früchten klarkommen.
Was für ein selbstherrlicher Bullshit!
Denn dass die gesamte Wiedervereinigung ein völlig überstürztes Unterfangen
war, das viel zu schnell und ohne Rücksicht auf Verluste einfach
durchgezogen wurde, damit Helmut Kohl noch ein bisschen im Kanzlersessel
sitzen bleiben konnte, das hat heute anscheinend sogar die taz vergessen.
Meine Mutter ist übrigens – wie die meisten anderen Ostdeutschen,
einschließlich mir – kein Neonazi geworden, das nur noch mal
hinterhergeschoben.
13 Jun 2017
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Kolumne Immer bereit
DDR
Studie
Rechtsextremismus
Kolumne Immer bereit
Lesestück Recherche und Reportage
Regen
Rechtsextremismus
Demokratieforschung
Gruppe Freital
Schwerpunkt Rechter Terror
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