| # taz.de -- Israel und Palästina: Zehn Kilometer Niemandsland | |
| > Tausende palästinensische Jerusalemer leben hinter Israels Trennanlagen. | |
| > Polizei gibt es dort nicht, illegale Bauten sprießen aus dem Boden. | |
| Bild: Israelische Polizisten trauen sich kaum hinter Kalandias Grenzanlagen, pa… | |
| JERUSALEM taz | Saddam Hussein schaut von der Wand aus zu, wie Ahmad Abu | |
| Latife Haare schneidet und Bärte stutzt. „Er hat das palästinensische Volk | |
| unterstützt“, erklärt Abu Latife das fast die ganze Wand ausfüllende Foto | |
| von dem früheren irakischen Despoten. Flink hantiert der 36-jährige | |
| schlaksige Friseur mit Kamm und Schere am Kopf seines Kunden, während er | |
| über „das Chaos“ schimpft in Kufr Akab, seinem Dorf, das gleich hinter den | |
| Grenzanlagen von Kalandia liegt. Jeden Tag Verkehrsstaus, weder Recht noch | |
| Ordnung herrsche hier. „Niemand fühlt sich für uns zuständig.“ | |
| Kufr Akab ist eine von acht Nachbarschaften, die formal zum Stadtgebiet von | |
| Jerusalem gehören, gleichzeitig aber hinter einer hohen Betonwand und | |
| Kontrollanlagen liegen, die Israel vor zwölf Jahren errichten ließ, um | |
| sich vor Terroristen zu schützen. | |
| Israels Armee vertrieb die Jordanier im Sechstagekrieg im Juni 1967 aus dem | |
| Westjordanland, und Jerusalem begann zu wachsen. Vor allem nach Norden und | |
| Osten breitete das Rathaus sein Einzugsgebiet aus. | |
| Kufr Akab liegt ganz im Norden, kurz vor Ramallah. Wer von Jerusalem | |
| kommend den Checkpoint Kalandia überquert, trifft auf Straßenhändler mit | |
| Selfiesticks und Kaugummis und auf junge Palästinenser, die für umgerechnet | |
| einen Euro die Autofenster putzen. Manche kommen bedrohlich nahe heran, | |
| betteln, drängen und treten, wenn sie zurückgewiesen werden, gern mal mit | |
| dem Fuß gegen das Fahrzeug. | |
| Strafe oder auch nur eine Zurechtweisung müssen sie nicht fürchten, denn | |
| hier gibt es keine Polizei. Die Straßen sind voller Schlaglöcher, die | |
| Vorfahrt wird durch die Größe des Wagens und die Entschlossenheit seines | |
| Fahrers geregelt. Auf den Bürgersteigen häuft sich der Müll. | |
| Kalandia, das Flüchtlingslager des Dorfs, und Kufr Akab sind Niemandsland. | |
| Die israelischen Sicherheitsbeamten wagen sich kaum über den Kontrollpunkt | |
| hinaus, und palästinensischen Polizisten begegnet man frühestens zehn | |
| Kilometer weiter nördlich. Der Zuständigkeitsbereich der Palästinensischen | |
| Autonomiebehörde (PA) beginnt erst an der Stadtgrenze von Ramallah. Und der | |
| zivilen Bevölkerung gelingt es ganz und gar nicht, der Kriminalität zu | |
| begegnen. Längst gilt das Flüchtlingslager von Shuafat als ein Ort | |
| lebhaften Drogenhandels. | |
| ## Nichts ist legal | |
| In Kufr Akab ist der illegale Baubetrieb ein zentrales Problem. Seit zehn | |
| Jahren entsteht ein Hochhaus neben dem anderen ohne jede Kontrolle durch | |
| eine Bauaufsichtsbehörde. „Mein Haus ist Baujahr 1971“, erklärt Bassem | |
| Maswadi, der sich mit inoffiziellem Auftrag der PA der Aufgaben annimmt, an | |
| denen das Rathaus Jerusalems scheitert. | |
| Damals war noch alles geregelt und von städtischen Ingenieuren | |
| kontrolliert, die Wände von Maswadis Haus sind stabil. „Trotzdem hätte ich | |
| bei einem Erdbeben schlechte Überlebenschancen, denn links und rechts | |
| stehen Hochhäuser, die vermutlich sofort auf unser Dach krachen würden.“ | |
| Keiner seiner Nachbarn habe je eine Baugenehmigung beantragt. „Nichts ist | |
| legal.“ Nahezu „verzehnfacht“ habe sich die Bevölkerung, seit Israel die | |
| Trennanlagen errichten ließ. Gleich geblieben sei nur die Infrastruktur. | |
| Über tägliche Stromausfälle und Rohrbrüche der Abwasseranlagen klagt der | |
| rundliche Beamte und über die Müllberge, die nur sporadisch aufgesammelt | |
| würden. Mindestens jeden zweiten Tag „platzt irgendwo in Kufr Akab ein | |
| Abwasserrohr“, sagt Maswadi. | |
| ## Ein Ausweis von Gewicht | |
| Wie die meisten seiner Mitbürger aus Kufr Akab hat Maswadi den blauen | |
| Personalausweis der Jerusalemer Palästinenser. Der Ausweis ist bare Münze | |
| wert. Israel annektierte Ostjerusalem kurz nach dem Sechstagekrieg vor 50 | |
| Jahren. Wer wollte, konnte fortan die israelische Staatsbürgerschaft | |
| beantragen, was die große Mehrheit der Palästinenser als Verrat am eigenen | |
| Volk betrachtete und deshalb ablehnte. | |
| Nur wer im Besitz der blauen ID-Karte ist, kann den Checkpoint in Richtung | |
| Jerusalem überqueren, darf überall in Israel arbeiten und ist | |
| sozialversichert. Der blaue Personalausweis ist der Grund, warum die Leute | |
| es vorziehen, in das von den Behörden vernachlässigte Kufr Akab zu ziehen | |
| statt in einen netteren Vorort Ramallahs. Ein Umzug ins Westjordanland | |
| bedeutet automatisch den Verlust des Jerusalemer Personalausweises. Kufr | |
| Akab ist außerdem preiswert. Der Mangel an öffentlicher Kontrolle schafft | |
| günstigen Wohnraum. | |
| In den Wohnvierteln hinter den Trennanlagen muss niemand den Abriss | |
| illegaler Bauten fürchten. Ganz anders ist es im restlichen Ostjerusalem, | |
| wo es im Jahr 2016 mit rund 200 Hauszerstörungen einen traurigen Rekord | |
| gab, wie die Nichtregierungsorganisation Ir Amim (Stadt der Völker) | |
| berichtete. Auch hier bauen die Leute ohne offizielle Genehmigung. Sie tun | |
| es aus Mangel an Alternativen, denn die Stadt erteilt laut Ir Amim nur 15 | |
| Prozent aller Baugenehmigungen an Palästinenser, obschon diese 40 Prozent | |
| der Gesamtbevölkerung Jerusalems ausmachen. | |
| Für junge Familien bedeutet das, entweder illegal zu bauen und damit das | |
| Risiko eines Abrisses in Kauf zu nehmen oder wegzuziehen. Viele ziehen weg | |
| und landen, um den blauen Personalausweis zu behalten, in Kufr Akab oder | |
| einem der Nachbarviertel. Auch wenn das für sie bedeutet, hinter den | |
| Trennanlagen, hinter Stacheldraht, einer hohen Mauer und Grenzanlagen leben | |
| zu müssen. | |
| ## Morgens wartet der Schulbus | |
| Ginge es nach dem Friseur Latife, dann stünde Kufr Akab schlicht unter | |
| Verwaltung des Rathauses von Ramallah. Latife ist | |
| Westjordanland-Palästinenser und hätte im Gegensatz zu den Neubürgern im | |
| Dorf nichts zu verlieren. | |
| „Auf keinen Fall“, protestiert sein Kunde, dem Latife gerade das | |
| Rasiermesser ans Kinn setzt. „Kufr Akab gehört zu Jerusalem.“ Der Mann | |
| sorgt sich um seine Vorzüge als Jerusalemer Bürger, um seinen Arbeitsplatz | |
| und die Bildung seiner Kinder. Jeden Morgen wartet ein städtischer Schulbus | |
| am Grenzübergang Kalandia und sammelt die jungen Palästinenser ein, um sie | |
| zur Schule nach Jerusalem zu bringen. | |
| Lieber heute als morgen würde Jerusalems Bürgermeister Nir Barkat die | |
| Verantwortung für die Wohnviertel jenseits der Trennanlagen loswerden. | |
| Schon vor fünf Jahren schlug er vor, die rund 120.000 betroffenen | |
| Palästinenser der militärischen Zivilverwaltung zu unterstellen, die in | |
| den von Israel noch immer besetzten palästinensischen Gebieten zuständig | |
| ist. Barkat will „das Land ohne die Leute annektieren“, kommentierte Ir | |
| Amim damals. Dafür wäre eine politische Entscheidung der Regierung nötig. | |
| ## Ein anarchistisches Vakuum | |
| Warum die Mauer nicht von vornherein jenseits des Jerusalemer Stadtgebiets | |
| errichtet wurde, ist Ben Avrahami, der im Rathaus für die Bürger | |
| Ostjerusalems zuständig ist, auch nicht recht klar. Regierungschef war | |
| damals Ariel Scharon, Chef des konservativen Likud. Die Zweite Intifada | |
| forderte zahllose Menschenleben auf beiden Seiten, und die Mauer sollte dem | |
| Morden ein Ende machen. | |
| „Viele Terroristen kamen gerade aus Ramallah durch Kufr Akab“, sagt | |
| Avrahami, der einräumt, dass es „große Probleme“ in den städtischen | |
| Regionen hinter den Sperranlagen gibt. „Das Rathaus bekommt kein grünes | |
| Licht von der Polizei, um Beamte dorthin zu schicken und zu kontrollieren.“ | |
| Die Konsequenz ist ein Vakuum. Anarchistische Zustände herrschen gerade | |
| beim Hausbau. Immerhin habe die Stadt jüngst Straßenschilder aufgestellt | |
| und für Hausnummern gesorgt. Nur wer eine Adresse hat, dem kann man eine | |
| Rechnung über die städtischen Abgaben schicken. Als Nächstes sollen Straßen | |
| gebaut werden, denn, so Avrahami, wenigstens „da, wo Straßen sind, können | |
| keine neuen Häuser mehr entstehen“. | |
| 29 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Knaul | |
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