# taz.de -- Kinderherzchirurgie in Ostjerusalem: Tausend Herzen für Kinder | |
> Nizar Hijjeh gab seinen Job als Oberarzt auf, ließ seine Familie in | |
> Deutschland zurück. In Ostjerusalem operiert er Kinder, die sonst | |
> unversorgt blieben. | |
Bild: Sein weißer Arztkittel trägt noch immer den Aufnäher „Universitätsk… | |
JERUSALEM taz | Die Kinder fanden es lustig, die Polizei wunderte sich. Da | |
kam am Rand einer viel befahrenen Straße ein Mann auf einem Esel zum Ölberg | |
hochgeritten, dem Hügel oberhalb der Altstadt von Jerusalem. Vor dem | |
Makassed Hospital, dem größten palästinensischen Krankenhaus, stieg er vom | |
Esel, führte das Tier zu einem kleinen Platz just unter seinem Büro in der | |
Chirurgie, wo es sei Heu fraß. Das Futter hatte der Arzt selbst besorgt. | |
Nizar Hijjeh leitet die Kinderherzchirurgie des Krankenhauses. Er trägt | |
einen weißen Arztkittel mit einem Aufnäher „Universitätsklinikum Marburg�… | |
darunter das grüne Hemd des Chirurgen. „Den Esel habe ich bei einem alten | |
Mann gemietet“, sagt er, „zwei Wochen lang ritt ich jeden Tag zur Arbeit. | |
Es war ein Protest.“ | |
Der hochspezialisierte Arzt darf zwar in Jerusalem operieren, aber nicht | |
Auto fahren. Auf einem Esel reiten darf er schon. Hijjeh ist Palästinenser | |
aus dem Westjordanland. Wie dieses gehörte Ostjerusalem, wo das Massaked | |
Hospital liegt, bis zum Sechstagekrieg von 1967 zu Jordanien. Danach wurde | |
es von Israel annektiert. Ostjerusalem gehört nach israelischem Verständnis | |
und Recht seither zur vereinigten Hauptstadt Israels. | |
Die palästinensischen Einwohner Ostjerusalems haben eine blaue ID-Karte, | |
die sie als „Ständige Einwohner“ Jerusalems ausweist und im Übrigen zu | |
Reisen in ganz Israel berechtigt. Die Palästinenser des Westjordanlands | |
hingegen haben einen palästinensischen Pass, ausgestellt von der | |
Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah. Ein Recht auf Einreise nach | |
Israel, also auch nach Ostjerusalem, haben sie nicht. Hijjeh aber hat eine | |
Sondererlaubnis. Obwohl er Palästinenser aus dem Westjordanland ist, darf | |
er als Arzt und nur als Arzt in Ostjerusalem arbeiten, aber eben nicht Auto | |
fahren. | |
## Von Dammam nach Schwäbisch Hall | |
Geboren wurde Hijjeh 1967 in Hebron, der größten Stadt des Westjordanlands. | |
Der Sechstagekrieg lag wenige Wochen zurück. Doch Ruhe kehrte nicht so | |
schnell ein. Palästinensische Freischärler der Fatah von Jassir Arafat | |
verübten Attentate auf die israelischen Soldaten. Israel sprengte die | |
Häuser jener, die bewaffnete Palästinenser beherbergten. Es kam zu | |
zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Viele Palästinenser flüchteten nach | |
Jordanien. Als Hijjeh drei Monate alt war, setzte sich auch seine Familie | |
ins jordanische Amman ab. Nach einer Reise durch verschiedene arabische | |
Länder fand sein Vater in Saudi-Arabien eine Arbeitsstelle als Ingenieur. | |
Dort, in Dammam, ging Hijjeh zur Schule und machte sein Abitur „mit | |
Bestnote“, wie der heute 49-Jährige nebenbei erwähnt. | |
Im Alter von 18 Jahren wanderte Hijjeh nach Deutschland aus. Von Dammam | |
nach Schwäbisch Hall. Am Goethe-Institut lernte er Deutsch. „Für mich war | |
es schwierig“, sagt er, „die Familie weit weg, Freunde hatte ich keine, | |
auch keine arabischen Freunde, ich war der einzige Palästinenser.“ | |
Ein Jahr Studienkolleg in Heidelberg, vier Semester Zahnmedizinstudium in | |
Freiburg, Medizinstudium in Marburg. Herzchirurg in Bad Nauheim. Ausbildung | |
zum Kinderherzchirurgen in Gießen. Zuletzt arbeitete er als | |
Kinderherzchirurg an den Universitätskliniken in Marburg und Gießen, wo er | |
Oberarzt war. Er verdiente gut. „Ich habe das Leben in Deutschland | |
genossen“, sagt er, „ich habe eine tolle Familie, gesunde Kinder, wir haben | |
in allen möglichen Ländern Urlaub gemacht.“ | |
Aber Hijjeh war auch jedes Jahr in Hebron, wohin auch sein Vater | |
zurückgekehrt ist. „Ich habe gesehen, wie mein Volk leidet“, sagt er ohne | |
Pathos in der Stimme, „es leidet und es wird alles immer schlimmer. Zudem | |
gab es in den palästinensischen Gebieten keinen einzigen | |
Kinderherzchirurgen. Hier starben Kinder, die, wären sie in Israel geboren | |
worden, überlebt hätten.“ So nahm er mit dem Gesundheitsministerium der | |
Palästinensischen Autonomiebehörde Kontakt auf. | |
Hijjehs Frau, eine deutsche Politologin, sein zwölfjähriger Sohn und seine | |
zehnjährige Tochter sind in Deutschland geblieben. „Wir telefonieren jeden | |
Tag“, versichert er. Und schon klingelt das Telefon. Am Apparat ist sein | |
Sohn. Er ist vom Fahrrad gestürzt. Hijjeh fragt ihn, wo es wehtue, tröstet | |
ihn, schickt ihn zu einem Arzt, den er gleich anrufen wird. Vater und Sohn | |
reden deutsch. Hijjeh ist für einen Moment nach Deutschland zurückgeholt | |
worden. Er schweigt, verbirgt kurz das Gesicht in den Händen. Alle sechs | |
oder sieben Woche fliegt er für eine Woche zu seiner Familie. Und in den | |
Sommerferien kommt die Familie für einen Monat nach Hebron. | |
## Die Station „Offenes Herz“ | |
Rund 300 Kinder operiert Hijjeh jährlich am Herzen. Schon weit über | |
tausend sind es inzwischen geworden. Der Arzt zeigt seine Station. „Open | |
heart“ („Offenes Herz“) steht an der Türe. Ein Dutzend Kleinkinder liegen | |
auf der Station, die meisten an Schläuchen. Eine rote Linie am Boden | |
markiert die Grenze, die Besucher nicht überschreiten dürfen wegen der | |
Infektionsgefahr. Den Operationssaal der Kinderherzchirurgie hat Hijjeh | |
selbst eingerichtet. Eine Million Dollar hat er bei Palästinensern vor Ort | |
und im Ausland gesammelt. Über israelische Firmen hat er in Deutschland und | |
den USA Apparate, Messgeräte, die kardiologische Ausstattung für die | |
Intensivstation eingekauft. | |
Rund 60 Prozent der Kinder, die Hijjeh operiert, kommen aus dem | |
Gazastreifen, die übrigen aus dem Westjordanland. Die Palästinenser | |
Ostjerusalems lassen sich in der Regel in Westjerusalem behandeln, sie sind | |
über ihre blaue ID-Karte in Israel versichert. Patienten aus dem | |
Westjordanland und dem Gazastreifen hingegen sind alle über das | |
Gesundheitsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde versichert. | |
Bloß ist dieses knapp bei Kasse und kann oft dem Krankenhaus die Kosten | |
nicht erstatten und den Ärzten die Löhne nicht auszahlen. „Manchmal fehlt | |
uns das Geld, um künstliche Herzklappen oder auch nur Nahtmaterial für die | |
Operationen einzukaufen“, sagt Hijjeh, „dann müssen wir eben dringende | |
Operationen aufschieben.“ | |
Das kann Leben kosten – so wie auch die bürokratischen Hürden. Für die | |
Reise vom Westjordanland oder vom Gazastreifen nach Ostjerusalem brauchen | |
die Patienten eine Genehmigung Israels, die die palästinensische Behörde | |
beantragen muss. In 20 Prozent der Fälle wird sie verweigert. Patienten, | |
die einreisen dürfen, kommen in einer Ambulanz aus Hebron, Nablus oder | |
anderen Städten. Am Checkpoint werden sie in einen anderen Rettungswagen | |
umgeladen, der in Israel registriert ist. Das alles kostet Zeit und | |
schlimmstenfalls eben auch Leben. | |
## Ein Ort zur Übernachtung | |
Und dann ist noch ein Problem, das Hijjeh lösen möchte. Die herzkranken | |
Kinder müssen begleitet werden. Nach Ramallah, Hebron und Nablus fährt man | |
vielleicht in zwei Stunden. Wer aber aus Gaza kommt, kann nicht am selben | |
Tag zurück. „Schauen Sie um zwei Uhr früh vorbei“, sagt er, „und sie we… | |
in den Korridoren der Chirurgie überall alte Leute schlafen sehen.“ Wer | |
unter 55 Jahre alt ist – wie eben die meisten Mütter und Väter der jungen | |
Patienten –, erhält von den israelischen Behörden keine | |
Einreisegenehmigung. Also begleiten die Großeltern die Kinder. | |
„Wir bräuchten ein zusätzliches Gebäude mit Zimmern, Küche, Duschen und | |
Toiletten“, sagt Hijjeh. Aber dafür bräuchte man eine Baugenehmigung, und | |
eine solche erhalten Palästinenser im annektierten Ostjerusalem selten. | |
Dass die Krankenhausverwaltung von Israel abhängig ist, hat Hijjeh schon | |
erfahren müssen, als er dagegen protestierte, nicht Auto fahren zu dürfen. | |
Zwei Wochen ritt er auf einem Esel zum Ölberg. Als dies nichts fruchtete, | |
tauschte er den Esel gegen ein Pferd aus. Ohne Erfolg. Als er sich | |
schließlich ein Kamel besorgte, bat ihn die Krankenhausverwaltung, von | |
einer weiteren Eskalation abzusehen. Seither kommt der Arzt täglich mit | |
öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Taxi zur Arbeit. | |
21 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Thomas Schmid | |
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