# taz.de -- Autor Sam Bahour über Palästina: „Besatzung hat unser Land zerf… | |
> Die Palästinenser konzentrieren sich wegen der Besatzung auf den | |
> Widerstand – statt darauf, eine lebhafte Gesellschaft zu schaffen, sagt | |
> Sam Bahour. | |
Bild: „Palästina braucht gewaltlosen Widerstand“, sagt Autor Sam Bahour | |
taz: Herr Bahour, in wenigen Tagen ist das Westjordanland 50 Jahre besetzt. | |
Gibt es dort Veranstaltungen dazu? | |
Sam Bahour: Das Gedenken an 50 Jahre Besatzung wird hier mit einer Serie | |
von Veranstaltungen begleitet, sowohl auf politischer Ebene als auch von | |
Aktivisten. Es gibt Seminare, Demos und eine riesige Medienkampagne, um | |
hoffentlich die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft dafür zu | |
wecken, dass die Situation schon viel zu lange andauert. | |
Die Zweistaatenlösung scheint angesichts des israelischen Siedlungsbaus | |
immer unwahrscheinlicher zu werden. Welche Alternativen werden von den | |
Palästinensern diskutiert? | |
Wir sollten uns nicht in die Irre führen lassen von denen, die sagen, dass | |
die einzigen Lösungen ein Staat oder zwei Staaten sind. Schon bei der | |
Einstaatlösung ist die Frage, wie sie aussehen soll und ob es gleiche | |
Rechte für alle Bürger gibt. Es gibt außerdem Konföderationen und viele | |
andere Möglichkeiten, aber das ist alles Theorie. In der Praxis gibt es | |
längst eine Entscheidung. Aus palästinensischer Perspektive geht es um die | |
Selbstbestimmung. Darüber ist 1988 beim PLO-Nationalkongress entschieden | |
worden. Wenn wir 2017 noch immer über Modelle nachdenken, dann ist das, als | |
suchten wir uns ein Menü im Restaurant aus, je nachdem, wonach uns gerade | |
ist. Politik funktioniert anders. | |
Für Sie gibt es die Zweistaatenlösung und sonst nichts? | |
Die Schritte, die seit 1988 unternommen wurden, gingen systematisch in | |
diese Richtung, und es gibt konkrete Ergebnisse: Wir sind Beobachter als | |
Nichtmitgliedstaat in der UNO. Die Aufwertung zum Palästinenserstaat sollte | |
reichen, um die Debatte darüber zu beenden, welche Lösung zu verfolgen ist. | |
Wir sollten uns auf diesen Staat konzentrieren. Ich persönlich glaube, dass | |
die Zweistaatenlösung nicht die beste ist, vermutlich nicht die | |
praktikabelste und ganz sicher nicht die gerechteste. Aber es ist die | |
Lösung, für die sich beide Parteien entschieden haben und zu der sie | |
verpflichtet sind. | |
Die palästinensischen Gebiete, über die heute verhandelt wird, waren bis | |
1967 unter arabisch-jordanischer und ägyptischer Kontrolle. Warum ist | |
damals nicht schon ein Staat Palästina gegründet worden? | |
Das können Sie Jordanien, Ägypten oder die Türkei fragen. Die Entwicklung | |
des palästinensischen Bewusstseins und der Wille zur Selbstbestimmung | |
brauchten Zeit. Sicher ist, dass die Notwendigkeit einer Selbstbestimmung | |
durch die israelische Besatzung akuter wurde. Weder Ägypten noch Jordanien | |
wollten die Palästinenser von ihrem Land vertreiben, wohingegen die | |
israelische Seite versucht, so viel Land wie möglich mit so wenigen | |
Palästinensern wie möglich einzunehmen. Israel erstickt die Palästinenser | |
und bringt sie an einen Punkt, wo sie sich entweder der Gewalt zuwenden | |
oder gehen. Insofern diente die israelische Politik als Auslöser für die | |
Palästinenser, ihre Selbstbestimmung in Form eines eigenen Staates | |
voranzutreiben. | |
Vielleicht ist es leichter, Israel einen Staat abzufordern als Jordanien | |
oder Ägypten? | |
Wir fordern kein Heimatland. Wir haben ein Heimatland – hier. Wir haben | |
keinen Konflikt gesucht. Wir waren zu Hause, als der Konflikt aus Europa zu | |
uns kam. Weil wir geduldig sind und großzügig, versuchen wir jetzt, Teile | |
des historischen britischen Mandatslandes Palästina zu retten, um auf dem | |
Land, das von unserer Heimat noch übrig ist, unseren Staat zu gründen. | |
Welche Folgen hatte die Besatzung für die palästinensische | |
Zivilbevölkerung? | |
Unglaubliche. Die Besatzung hat unser Land zerfetzt, es ist durch die | |
Siedlungen physisch keine zusammenhängende Einheit mehr. Aber das ließe | |
sich reparieren. Was nicht rückgängig gemacht werden kann, ist der Schaden | |
an den Menschen. Zwei Generationen kennen nichts anderes als die Realität | |
von Soldaten, Checkpoints und Verboten. Das schafft eine Geisteshaltung, | |
die nicht gesund ist. Die Besatzung hat die palästinensische Existenz | |
dahingehend verändert, dass sie sich auf den Widerstand konzentriert | |
anstatt darauf, eine aufstrebende, lebhafte Gesellschaft zu schaffen. | |
Seit elf Jahren gab es keine Wahlen, das Parlament ist lange aufgelöst, die | |
Hamas regiert in Gaza, die Fatah in Ramallah. Sind die Palästinenser noch | |
nicht demokratiefähig? | |
Die palästinensische Demokratie befindet sich in einem Entwicklungsprozess. | |
Ich gehöre zu den lebhaftesten Verfechtern baldiger Wahlen. Aber es geht | |
auch um zivile Institutionen. Wenn ich mich für mein Land engagieren will, | |
muss ich über die Ressourcen bestimmen können, aber die sind unter | |
Kontrolle der Besatzung. Die Hälfte der Abgeordneten lebt in Gaza und darf | |
nicht ausreisen. | |
Was wäre mit Videokonferenzen? | |
20 bis 30 Abgeordnete sitzen im Gefängnis, dorthin wird uns Israel keine | |
Videoschalten erlauben. | |
Was halten Sie von Präsident Mahmud Abbas? | |
Auf diplomatischer Ebene macht er sich ganz gut, wenn man sieht, dass wir | |
2002 kurz vor dem Zusammenbruch standen. Gut zehn Jahre später stimmen 138 | |
Staaten für die Akzeptanz Palästinas in der UNO – das ist ein riesiger | |
Erfolg. Gewaltlosigkeit zu wahren, während wir umgekehrt täglich mit Gewalt | |
konfrontiert werden – auch das ist ein riesiger Erfolg. Reicht das? Nein. | |
Abbas wäre gut beraten, nicht nur Gewaltlosigkeit zu wahren, sondern auch | |
den gewaltlosen Widerstand voranzutreiben. Wir werden Widerstand leisten – | |
die Frage ist nur, auf welche Art. In unserem Fall ist angebracht, das | |
gewaltlos zu tun. Man geht nicht zum Boxweltmeister, der Israel in | |
militärischer Hinsicht ist, und fordert ihn zum Kampf heraus. Man geht zum | |
Boxweltmeister und fragt ihn, ob er Pingpong spielen will. Dann hat man | |
eine Chance zu gewinnen. Ich glaube, dass unser Präsident auf | |
internationaler Bühne Pingpong spielt. Das treibt die Israelis in den | |
Wahnsinn. | |
Was bringt es den Palästinensern konkret, von 138 Nationen anerkannt zu | |
werden? | |
Es tut sich etwas. Die EU schließt die Siedlungen von Förderprogrammen für | |
die Wissenschaft aus, israelische Produkte müssen gekennzeichnet werden. | |
Israel wird mehr und mehr in die Ecke gedrängt. Es muss klar sein: Wer die | |
Besatzung erhalten will, zahlt einen Preis dafür, wirtschaftlich, kulturell | |
und politisch. Wer die Besatzung beendet, hat alle arabischen Staaten, die | |
ihr Angebot schon auf den Tisch gelegt haben. Sie sind bereit zur völligen | |
Normalisierung der Beziehungen mit Israel. | |
2 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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