| # taz.de -- Sammelwerk „Handbook of Israel“: Neue Referenzgröße | |
| > WissenschaftlerInnen analysieren im „Handbook of Israel“ den | |
| > israelischen Staat. Es hat das Zeug zu einem neuem Standardwerk. | |
| Bild: Im Zentrum des Bandes steht ein Beitrag, der Israel als „Ethnokratie“… | |
| Nach wie vor sorgt der Israel-Palästina-Konflikt – die nun | |
| einhundertjährige Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern um ein | |
| Territorium, das etwa so groß ist wie Südhessen – für Beunruhigung, zumal | |
| in Deutschland. Debatten um die sogenannte Israelkritik, um | |
| Lehrbeauftragte, die sich antiisraelisch äußern, sowie um die Zulässigkeit | |
| der Boykottbewegung gegen Israel erregen fast täglich die Gemüter. | |
| Allerdings: Im Vergleich zu der halben Million Toten und den etwa 4 | |
| Millionen Flüchtlingen, die der syrische Bürgerkrieg in nur sechs Jahren | |
| forderte und die hier niemanden auf die Barrikaden getrieben haben, | |
| verblasst die Zahl von etwa 700.000 geflohenen und vertriebenen Arabern | |
| sowie von einigen tausend gefallenen Soldaten auf israelischer und | |
| arabischer Seite. | |
| Das ändert freilich ob der deutschen Verantwortung für die Ermordung von | |
| sechs Millionen europäischer Juden nichts an dem moralischen Gewicht dieser | |
| Frage. Um sich ein auch nur halbwegs begründetes Urteil bilden zu können, | |
| sind daher theoretische Kenntnisse, gesicherte historische Informationen | |
| sowie begründete Einsichten unerlässlich. | |
| ## Achtundsechzig Beiträge | |
| Das war bisher nur schwer möglich, hat sich freilich seit einigen Monaten | |
| mit dem Erscheinen des unter anderem von Julius Schoeps herausgegeben | |
| „Handbook of Israel: Major Debates“ grundlegend geändert. Das zweibändige, | |
| insgesamt etwa 1.300 Seiten zählende Sammelwerk präsentiert in zwölf | |
| Abschnitten insgesamt 68 Beiträge aus der Feder ausgewiesener israelischer | |
| und internationaler SpezialistInnen: ein Themenspektrum, das von „Topic I: | |
| Israel-West, East or Global“ über „Topic IV: Ethnic Inequality“ bis zu | |
| „Topic X: Debating Post Zionism“ sowie „Topic XIII: The Conflict“ reich… | |
| Vor allem aber sind die Bände in drei übersichtliche Hauptteile gegliedert, | |
| deren für die aktuelle Debatte bedeutsamster Teil der „Part B: The | |
| Challenge of Post-Zionism“ darstellt. | |
| Es liegt auf der Hand, dass eine normale Rezension nicht auf alle, durchweg | |
| vorzüglichen Kapitel eingehen kann; für die hiesige Debatte aber dürften | |
| jene Beiträge, die sich mit der Frage auseinandersetzen, ob der Staat | |
| Israel eine Demokratie oder – wie nicht wenige meinen – nicht letztlich | |
| eine Ausgeburt des europäischen Kolonialismus ist, von besonderem Gewicht | |
| sein. Was bisweilen als „antisemitisch“ gilt, nämlich die Behauptung, dass | |
| Israel Ausdruck des Kolonialismus sei, hat auch israelische | |
| Historikerinnen, die sich nach wie vor dem Zionismus verpflichtet fühlen, | |
| zu intensivem Nachdenken und gründlichen Studien angeregt. | |
| Im Zentrum steht daher der Beitrag des an der Universität Be’er Sheva | |
| forschenden Geografen Oren Yiftachel, der Israel als „Ethnokratie“ | |
| versteht. Eine „Ethnokratie“ so Yiftachel, ist ein Regime, das bestrebt | |
| ist, in disproportionaler Weise ein multiethnisches Territorium ethnisch zu | |
| kontrollieren. Daher seien „Ethnokratien“ instabile Herrschaftssysteme, die | |
| sich ständig mit widerstreitenden Tendenzen von ethnischen Expansionismus | |
| und massivem Widerstand gegen ihn auseinanderzusetzen hätten. | |
| ## Der ethnokratische Charakter | |
| Außer Israel nennt Yiftachel zum Beispiel Serbien oder Albanien als Fälle | |
| von Ethnokratien. Ein Beleg für den ethnokratischen Charakter des heutigen | |
| Staats Israel sei etwa der Umstand, dass die arabischen Bürger Israels auf | |
| 80 Prozent des israelischen Territoriums in den Grenzen von 1967 weder Land | |
| noch Immobilien erwerben können. In Verbindung mit der theokratischen | |
| Familiengesetzgebung – in Israel sind keine Zivilehen möglich – erweist | |
| sich daher das ungeschriebene israelische Verfassungsprinzip eines | |
| „jüdischen und demokratischen“ Staates als uneinlösbar. | |
| Dieser kritischen Haltung stimmt auch der emeritierte Soziologe Samy | |
| Samooha aus Haifa im Grundsatz zu, bezeichnet aber Israel gleichwohl | |
| aufgrund seiner freien Wahlen als „ethnische Demokratie“ – und bestreitet | |
| damit dem Begriff der „Ethnokratie“ die Geltung als eines eigenständigen | |
| politischen Idealtypus. | |
| Weitere, hier nicht im Einzelnen aufzuführende Autorinnen fügen weitere | |
| Differenzierungen an. Auf jeden Fall: Die seit mindestens zwanzig Jahren | |
| von israelischen Historikern und Soziologen erörterte „postzionistische“ | |
| Geschichtsbetrachtung sieht die ethnokratischen Züge des israelischen | |
| Staats als eine beinahe notwendige Konsequenz seiner Entstehung im | |
| Zeitalter des Kolonialismus an. | |
| Geshon Safir, er lehrt Soziologie an der University of California, bejaht | |
| die Frage, ob Israel ein kolonialer Staat sei: Indem er die Besiedlung des | |
| Westjordanlands seit 1967 mitsamt seiner Ausdehnung israelischen Rechts | |
| auf diese Territorien als beinahe zwingende Konsequenz der zionistischen | |
| Besiedlung Palästinas seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert versteht, | |
| kann er – wie Yiftachel – zu keinem anderen Schluss kommen, als dass | |
| Israel, der Besiedlung des Westjordanlands wegen, praktisch die letzte | |
| Siedlerkolonie des Westens ist. | |
| Andere Autoren führen zur Stütze dieser Überlegung ins Feld, dass im Staate | |
| Israel eben nicht nur der „Demos“ der dort lebenden Einwohner, sondern – | |
| über das Rückkehrgesetz und die Landeigentumsrechte internationaler | |
| jüdischer Organisationen – auch das „Ethnos“ aller Juden in der Welt den | |
| Souverän dieses Staates stellt. | |
| ## Europas Antisemitismus | |
| Diese Überlegungen bleiben in dem im besten Sinne pluralistischen Band | |
| keineswegs unwidersprochen; so bemüht sich die Doyenne der israelischen | |
| Historiker, Anita Shapira, um eine präzise, die Besonderheit der | |
| zionistischen Staatsgründung vor dem Hintergrund des europäischen | |
| Antisemitismus betonende Analyse. | |
| In ihrer gründlichen Kritik der Arbeiten des in den Bänden selbst nicht | |
| vertretenen Benny Morris räumt sie bei allem Widerspruch im Einzelnen doch | |
| ein, dass die „Postzionismus“-Debatte – verbunden mit der Diskussion um d… | |
| Kolonialismus der zionistischen Staatsgründung – positive Ergebnisse | |
| gezeitigt habe: Sie habe die Bereitschaft zu kritischer, unkonventioneller | |
| Geschichtsbetrachtung gestärkt; sie habe weiterhin jetzt neue, allzu lang | |
| übersehene Themen auf die Tagesordnung gesetzt: „The debate [. . .] | |
| transpired that it was of prime importance to Israels legitimacy in the | |
| world, and, as such, supporters and opponents of Israel alike understood | |
| its centrality to Israels standing.“ | |
| Wer sich an dieser Diskussion künftig ernsthaft beteiligen will, wird um | |
| die Lektüre dieser Bände nicht herumkommen; sie werden noch für mindestens | |
| zwei Jahrzehnte die unverzichtbare Referenzgröße, ja das herausragende | |
| Standardwerk in Israel, den USA und Deutschland sein. | |
| 20 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| ## TAGS | |
| Israel | |
| zionismus | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Israel | |
| Israel | |
| Antisemitismus | |
| Tel Aviv | |
| Arte | |
| taz-Serie 50 Jahre Sechstagekrieg | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Antisemitismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte Ultraorthodoxe in Israel: Die wachsende Minderheit | |
| Ultraorthodoxe verweigern den Militärdienst, zahlen kaum in die Staatskasse | |
| ein – geben aber in der Gesellschaft zunehmend den Ton an. | |
| Personalwechsel bei Arbeiterpartei: Frischer Wind für Israels Linke | |
| Avi Gabbay ist neuer Arbeiterpartei-Chef. Seine Eltern waren marokkanische | |
| Einwanderer. Er will wieder Friedensgespräche aufnehmen. | |
| Kolumne Gott und die Welt: Kompass einer Jugend | |
| Wir waren weder Antisemiten noch selbsthasserische Juden: Nicht jede Form | |
| des Antizionismus ist mit Antisemitismus gleichzusetzen. | |
| Fünf-Stunden-Lesung in Tel Aviv: „Solidarität ist wichtiger denn je“ | |
| Schriftsteller, Politiker, Soldaten und Künstler lesen Erlebnisse aus | |
| besetzten palästinensischen Gebieten vor. Dafür gibt es Lob – und harsche | |
| Kritik. | |
| Zensur einer Antisemitismus-Doku: Wehrhafte Juden sieht man nicht gern | |
| Eine WDR-Doku über Antisemitismus in Europa sollte auf Arte | |
| erstausgestrahlt werden. Weil sie nicht „ausgewogen“ sei, weigert sich der | |
| Sender. | |
| Essay „Konföderationslösung“ in Nahost: Israels linke Vorreiter | |
| Die „Zweistaatenlösung“ in Israel und Palästina wird immer unrealistische… | |
| Doch es gibt neue Ideen, vor allem die der „Konföderation“. | |
| Autor Sam Bahour über Palästina: „Besatzung hat unser Land zerfetzt“ | |
| Die Palästinenser konzentrieren sich wegen der Besatzung auf den Widerstand | |
| – statt darauf, eine lebhafte Gesellschaft zu schaffen, sagt Sam Bahour. | |
| Expertenbericht für den Bundestag: Alltäglicher Antisemitismus nimmt zu | |
| Der vom Bundestag eingesetzte Expertenkreis hat einen neuen | |
| Antisemitismusbericht vorgestellt. Wichtig ist, dass echte Konsequenzen | |
| gezogen werden. |