# taz.de -- Debatte Ultraorthodoxe in Israel: Die wachsende Minderheit | |
> Ultraorthodoxe verweigern den Militärdienst, zahlen kaum in die | |
> Staatskasse ein – geben aber in der Gesellschaft zunehmend den Ton an. | |
Bild: Ultraorthodoxe bei einem an einem Massengebet in Jerusalem | |
Waren es bei Staatsgründung nur einige Hundert Jeschiwaschüler – junge | |
Männer, die die heiligen Texte lesen und die Israels erster Regierungschef | |
David Ben-Gurion aufgrund ihrer geringen Zahl aus der Militärpflicht | |
entließ –, so machen die Charedim, die Gottesfürchtigen, heute schon mehr | |
als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung aus. | |
Jeder vierte Erstklässler lernt in einem unabhängigen Schulsystem, das auf | |
den Lehrplan nicht Mathe, Englisch oder Naturwissenschaften schreibt, | |
sondern das Alte Testament. Das Ziel eines jeden ultraorthodoxen Mannes ist | |
das lebenslange Studium der frommen Texte. Den Arbeitsmarkt überlässt man | |
anderen, und so müssen immer weniger Weltliche immer mehr Ultraorthodoxe | |
mitfinanzieren. | |
Grund für die rasante Zunahme der Israelis in Schwarz ist ihre hohe | |
Geburtenrate, die mit rund 6,5 Kindern pro ultraorthodoxer Frau knapp das | |
Dreifache vom Durchschnitt im Land ausmacht. Grund ist auch das Werben der | |
Charedim um junge Seelen. Zwar bleiben die ultraorthodoxen Juden gern unter | |
sich, wohnen in Stadtvierteln oder kompletten Ortschaften, in denen | |
Andersdenkende nicht erwünscht sind, aber sie wagen sich von Zeit zu Zeit | |
in weltlichere Gegenden mit dem Ziel, die verlorenen Söhne und Töchter in | |
den Kreis der radikal Religiösen zu locken. | |
Ähnlich wie Zeugen Jehovas stehen sie immer zu zweit am Eingang zum | |
Supermarkt oder in Einkaufszentren, verteilen statt Wachtturm Sabbatkerzen | |
und legen Männern Gebetsriemen um Arme und Kopf. Nachrichten, auf die | |
Mobiltelefone von Schülern geschickt, laden ein zu kostenlosen | |
Vorbereitungskursen für die Bar Mitzwa (jüdisches Pendant zur Konfirmation) | |
und kündigen die baldige Ankunft des Messias an. | |
## Zentral gelegene Gebäude in weltlichen Wohnvierteln | |
„Kommt zum Grab der Stammmutter Rachel“, ruft eine Botschaft zum | |
gemeinsamen Gebet. Wo es sich ergibt, kaufen die Charedim mithilfe | |
ausländischer Geldgeber zentral gelegene Gebäude in weltlichen | |
Wohnvierteln, machen aus einem alten Kino oder einem Jugendklub einen | |
religiösen Kindergarten, eine Jeschiwa, eine Mikwe oder eine Schule für | |
fromme Mädchen. Sie sind fast überall präsent und stets ansprechbar für | |
den, der sich anschließen will. | |
In den ultraorthodoxen Gemeinden ersetzt blinder Gehorsam das | |
selbstständige Denken. Getan wird, was der Rabbiner sagt. Zu den | |
undemokratischen Wertvorstellungen gehört das Verdammen von Homosexuellen | |
und in weiten Teilen sogar Rassentrennung. Mischehen zwischen | |
aschkenasischen Juden, die ihre Wurzeln in Europa und Osteuropa haben, und | |
orientalischen Juden sind nicht gern gesehen. Vor allem aber bleibt die | |
Rolle der Frau darauf beschränkt, dem Mann das fromme Studium zu | |
ermöglichen. Sie ist Ehefrau und Mutter, erledigt den Haushalt und verdient | |
das Geld. Einflussreiche Posten bleiben ihr grundsätzlich verwehrt. | |
Tatsächlich taucht sie in weiten Bereichen der Öffentlichkeit gar nicht | |
erst auf. | |
Auf den Listen der beiden derzeit in der Knesset (Parlament) vertretenen | |
ultraorthodoxen Parteien steht keine einzige Frau. Die aschkenasische | |
Partei Vereintes Thora-Judentum stellt sechs von insgesamt 120 | |
Abgeordneten, die orientalische Schass sieben. Diese Zahlen sind | |
proportional zum Anteil der Charedim in der Bevölkerung, dennoch reicht ihr | |
Einfluss weiter. | |
Ben-Gurion ließ sich bei der Staatsgründung darauf ein, den Sabbat zu ehren | |
und die Koschheitsregeln. In einem Land, wo jeder fünfte Bürger ein Araber | |
ist, fahren ab Freitagnachmittag keine Busse mehr, und an öffentlichen | |
Orten dürfen nur koschere Mahlzeiten serviert werden. Zudem unterstehen | |
familienrechtliche Angelegenheiten ausschließlich den religiösen Gerichten. | |
Anstatt die Macht derer, die weniger in die Staatskasse zahlen, als sie | |
daraus bezahlt bekommen, zugunsten der arbeitenden Bevölkerung zu | |
beschränken, gibt die Regierung immer wieder nach. Das betrifft die | |
Wehrpflicht für alle, und es betrifft die Religionsfreiheit derer, die das | |
Judentum weniger streng auslegen. Trotz gegensätzlicher Gesetzesreform | |
dürfen Liberale noch immer nicht zum gemischten Gebet an die Klagemauer, | |
und auch wer konvertieren darf, bestimmt allein der orthodoxe Oberrabbiner. | |
## Wege in die Synagoge | |
Ausgerechnet von den etwas weniger Frommen bekommen die Charedim jüngst | |
zusätzlich Rückenwind. Man ist als ultraorthodoxer Jude zwar nicht mit der | |
Lebensweise der Nationalreligiösen einverstanden, für seine Zwecke sind sie | |
trotzdem bisweilen sinnvoll. Unter Bildungsminister Naftali Bennett, dem | |
Chef der Siedlerpartei Das jüdische Heim, verschieben sich die Prioritäten | |
auf dem staatlichen Lehrplan zugunsten der Frommen. | |
Humanistische Werte, Philosophie und Staatskunde ade – willkommen | |
Vorbereitungskurse auf die Bar Mitzwa, israelisches Erbe, israelische | |
Kultur und Klassenfahrten nach Hebron zum Grab des Stammvaters Abraham. Oft | |
werden „Experten“ aus dem ultraorthodoxen Sektor angeheuert, um die Aufgabe | |
zu erledigten, die weltliche Lehrer überfordert. | |
Die Schulen ebnen den Kindern mehr und mehr den Weg zur Synagoge, und eine | |
Minderheit diktiert einer phlegmatischen Mehrheit als Ziel das Jüdischsein. | |
Je radikaler, desto besser. | |
## Antiklerikales Parteiprogramm | |
Die Unzufriedenheit der Weltlichen mit den streng Gläubigen macht sich | |
sporadisch Luft. Ein antiklerikales Parteiprogramm ließ die Partei Jesch | |
Atid (Es gibt eine Zukunft) des früheren Journalisten Jair Lapid vor vier | |
Jahren einen Sprung von null auf 19 Mandate in der Knesset machen. | |
Parallel zu Lapids Partei arbeitet die Initiative „Das Forum“ gegen die | |
„immer verbreitetere religiöse Radikalisierung“ (so heißt es auf ihrer | |
Website [1][hilonim.org.il]) und gegen den schleichenden Prozess im | |
öffentlichen Bildungsapparat. Die Initiative fordert ein unabhängiges | |
Schulsystem, das auf weltlicher Kultur, weltlichen Werten und liberalem | |
Gedankengut basiert. | |
Paradoxerweise gelten in der Auseinandersetzung der beiden Gruppen | |
ausgerechnet die Weltlichen als die „Rassisten“, die gegen Pluralismus und | |
Liberalismus eintreten. Was, so fragen die frommen Missionare unschuldig, | |
hätten die denn nur gegen „das bisschen Jüdischsein“. | |
15 Aug 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://www.hilonim.org.il | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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