| # taz.de -- Nach den Protesten in Weißrussland: Der Präsident und die Faulenz… | |
| > Tausende Menschen demonstrierten im März gegen Präsident Lukaschenko. Der | |
| > Unmut bleibt, doch die Opposition ist gespalten. | |
| Bild: Bunte Opposition: Diskussionsbedarf am Rande der Proteste vom 25. März 2… | |
| Minsk taz | Behutsam hält die Tänzerin die Kerze in den Händen. Immer | |
| schneller wirbelt sie um die eigene Achse und hält ihre Hand schützend vor | |
| die Kerze. Zwei Geigen und eine Bassbalalaika spielen dazu. Das weiße Kleid | |
| mit den roten Stickereien bläht sich auf. Wird die Kerze verlöschen? Die | |
| Zuschauer halten den Atem an. Erst als die Tänzerin mit dem letzten Akkord | |
| das Flämmchen ganz vorsichtig ausbläst, kommt wieder Bewegung in die | |
| Reihen. | |
| „Der Kerzentanz ist ein alter Tanz aus den Dörfern von Belarus“ erzählt | |
| Natalja Djagel. „Das Licht das ganze Leben lang in unserer Seele zu tragen, | |
| das ist die Botschaft.“ Djagel ist Gründerin und Leiterin von „Chabarok“, | |
| zu Deutsch „Wilder Thymian“. Die Musiker und Tänzer von Chabarok sind bei | |
| staatlichen Stellen beliebt, auch beim Militär, sogar für Präsident | |
| Lukaschenko haben sie schon gespielt. Bald werden sie hier, im Palast für | |
| Kinder und Jugendliche in Minsk, ihr 30-jähriges Bestehen feiern. | |
| Natalja Djagel sieht ihren Musikern mit kritischem Blick hinterher, als sie | |
| sich nach dem Auftritt einen Wodka genehmigen. Wodka, das weiß sie, löst | |
| die Zunge. Schnell kommen sie auf die Demonstrationen im März und das | |
| „Faulenzergesetz“ zu sprechen. Seit April 2015 muss jeder, der weniger als | |
| 183 Kalendertage im Jahr arbeitet, eine Sondersteuer von bis zu 200 Euro | |
| zahlen. | |
| Kurz vor Ablauf der Zahlungsfrist im Februar dieses Jahres entlud sich | |
| erstmals der Zorn der Menschen. Zu Tausenden gingen sie in verschiedenen | |
| Städten auf die Straße. In Minsk wurden Hunderte verhaftet, viele schon im | |
| Vorfeld des Protests. Doch Präsident Lukaschenko ruderte zurück und | |
| verlängerte die Zahlungsfrist für die Strafen um ein Jahr. Ein Teilerfolg. | |
| ## Angst vor ukrainischen Verhältnissen | |
| „Mit diesem Gesetz hat Lukaschenko einen Fehler gemacht“, beginnt der | |
| breitschultrige Ihor, der die Balalaika spielt. Dennoch habe er selbst sich | |
| an den Protesten nicht beteiligt. Warum? Ihor, ein Ukrainer, hat große | |
| Angst vor ukrainischen Verhältnissen. Seine gesamte Familie, erzählt er, | |
| wohne in der Westukraine. | |
| Eine Tänzerin, die Tochter auf dem Schoß, nickt heftig: „Meine Schwester | |
| wohnt in Kiew, meine Oma in Donezk. Seit drei Jahren reden die nicht mehr | |
| miteinander.“ Schön sei es nicht, wie der Staat gegen die Demonstranten | |
| vorgegangen sei, fährt Ihor fort. Aber würden nicht auch in den USA | |
| Demonstrationen mit Gewalt aufgelöst? Die Sicherheitskräfte hier hätten | |
| jedenfalls keine Wasserwerfer und kein Tränengas eingesetzt, davon ist er | |
| überzeugt. | |
| Überhaupt habe das Land dank Lukaschenko in den letzten Jahren große | |
| Fortschritte gemacht. Weißrussland ist zu einem Scharnier zwischen West und | |
| Ost geworden. Ihor redet sich in Fahrt – je länger, desto staatstragender | |
| klingt er. Den Weißrussen gehe es wirtschaftlich besser als den Ukrainern, | |
| glaubt er. Nein, Lukaschenko, davon ist er überzeugt, wird bleiben. Und das | |
| sei gut so. | |
| Eine Kollegin hat geschwiegen und ihren Bassisten nur missbilligend | |
| angeblickt. Dann steht sie auf, weil das Taxi wartet, und sagt im | |
| Hinausgehen: „Ich glaube, Lukaschenko hat immer noch nicht begriffen, dass | |
| seine Zeit längst abgelaufen ist.“ Das Ensemble ist gespalten. Die Künstler | |
| stecken in der Zwickmühle. Als städtische Einrichtung wollen sie dem Staat | |
| gegenüber loyal sein. Andererseits sind es gerade Künstler, die mit ihren | |
| Gelegenheitsjobs vom „Faulenzergesetz“ betroffen sind. | |
| ## Ein Hauch Monte Carlo in Minsk | |
| Traut man der Werbung auf den Minsker Straßen, braucht es keine | |
| Sondersteuer. Die weißrussische Hauptstadt scheint genug Geld zu haben. | |
| Mehr noch, es weht ein Hauch von Monte Carlo. Die riesigen Werbetafeln für | |
| Spielkasinos fallen ins Auge. Glücksspiel ist in der Ukraine und Russland | |
| weitgehend verboten, doch Präsident Lukaschenko will sich die zusätzlichen | |
| Steuereinnahmen nicht entgehen lassen. | |
| Aber auch die Sowjetunion ist hier noch präsent. Auf dem | |
| Unabhängigkeitsplatz, der bis 1990 Leninplatz hieß, fällt der Blick auf die | |
| mächtige bronzene Leninstatue – die größte der Welt, glaubt man den | |
| Passanten. Nichts auf diesem Platz scheint dem einstigen Führer des | |
| Weltproletariats zu entgehen. „Ich weiß nicht, warum Lenin hier unbedingt | |
| stehen muss“, meint ein älterer Herr mit Stock. „Doch er soll bleiben.“ | |
| Was Lenin nicht ahnt – unter dem Beton zu seinen Füßen verbirgt sich ein | |
| Shoppingcenter. Dort, in einem Burger-Restaurant, erzählt Olga Deksnis, wie | |
| stolz sie darauf ist, dass sie sich als Journalistin aus alten Zwängen | |
| freigeschaufelt hat. | |
| Ein halbes Jahr arbeitete die alleinerziehende Mutter beim staatlichen | |
| Fernsehen, erzählt sie, dann bei der Komsomolskaja Prawda. Einfach sei es | |
| nicht gewesen, bei Medien zu arbeiten, die von ihren Mitarbeitern viel Lob | |
| für die Regierung erwarteten. Jetzt arbeitet Olga Deksnis, die 100 | |
| Kilometer von Minsk entfernt in dem Städtchen Wilejka lebt, freiberuflich | |
| bei einem unabhängigen Medium. | |
| ## 120 Euro für's Faulenzen | |
| Die Aufforderung vom Finanzamt, 120 Euro für ihr „Faulenzen“ zu bezahlen, | |
| hat sie nicht nur deswegen getroffen, weil sie das Geld schlicht nicht hat. | |
| Es ist ein Angriff auf ihre Autonomie. Demütigend war es, erzählt sie, als | |
| ihr gesagt wurde, sie könne sich doch auf dem Arbeitsamt um einen Job | |
| bemühen. Olga Deksnis’ Empörung ist jetzt noch zu spüren. In Wilejka gibt | |
| es auf dem Arbeitsamt 15 freie Stellen, schimpft sie, als Melkerin, | |
| Traktorist und Verkäuferin im Dorfladen. | |
| Und nicht nur das. Immer wieder suchten Beamte angebliche „Schmarotzer“ auf | |
| und böten ihnen in Begleitung eines Kamerateams Arbeit an. Wer sich | |
| weigert, muss damit rechnen, im Staatsfernsehen als Prototyp eines | |
| Faulenzers vorgeführt zu werden. | |
| Olga Deksnis ist sich sicher: Es reicht nicht, an Symptomen zu arbeiten, | |
| das Gesetz gegen Faulenzer zurückzunehmen oder die Zahlungsfrist zu | |
| verlängern. „Wir leben seit 22 Jahren in einer Diktatur. Wirklich etwas | |
| bessern wird sich erst, wenn der Diktator geht. Und dann müssen wir in | |
| wirklich freien Wahlen einen neuen Präsidenten wählen.“ | |
| Nur wenige Hundert Meter von der Leninstatue entfernt befindet sich das | |
| Café Tscheburetschnaja. Es ist eines der wenigen Häuser aus der Zarenzeit, | |
| die Krieg und deutsche Besetzung überstanden haben. Mit seinem Stil passt | |
| es so gar nicht zwischen die sonst wuchtige sowjetischen Architektur | |
| Minsks. Drinnen in schummrigem Licht russische und weißrussische Gerichte | |
| angeboten. Besonders beliebt sind die Tschebureki, eine in Öl gebackene | |
| Teigspeise, die ursprünglich von den Krimtataren stammt. | |
| ## Eine halbe Million „Faulenzer“ | |
| „Hier ist am 25. März 1918 die Weißrussische Volksrepublik ausgerufen | |
| worden“, sagt Alexander Oparin im Tonfall eines Verschwörers. Deswegen | |
| finden jedes Jahr am 25. März Demonstrationen für die Unabhängigkeit des | |
| Landes statt. Und in diesem Jahr fiel die Demonstration besonders groß aus. | |
| Schließlich sind 500.000 Weißrussen vom „Faulenzergesetz“ betroffen. | |
| Oparin, der eigentlich bei jeder Demonstration dabei ist, wenn es um | |
| soziale Belange geht, war an dem Tag nicht auf der Straße. „Das ist für | |
| mich ein Feiertag der Nationalisten“, erklärt er. Für ihn biete diese | |
| Volksrepublik, die sich sehr schnell nach rechts entwickelt hat, keinen | |
| Anknüpfungspunkt. Gegründet wurde sie kurz nach dem Frieden von | |
| Brest-Litowsk mit Zustimmung des deutschen Generalstabs. „Das kann doch | |
| nicht klappen, eine unabhängige Republik unter den Augen der deutschen | |
| Besetzer auszurufen!“ | |
| Vermutlich hätte der 42-Jährige am 25. März protestiert – wenn er sich | |
| nicht im Laufe der letzten elf Jahre langsam von einem Konservativen zu | |
| einem Linken entwickelt hätte. 2006 unterstützte er noch aktiv den | |
| Wahlkampf des konservativen Oppositionskandidaten Alexander | |
| Milinkewitsch. Heute ist er Aktivist in der linken, oppositionellen Partei | |
| „Gerechte Welt“, die etwa 2.000 Mitglieder hat und seit 2009 Mitglied der | |
| Europäischen Linken ist. | |
| „Kneipen in Minsk, die kein Bier anbieten, können nicht überleben“, sagt | |
| Oparin plötzlich und greift zum Glas, das ihm die Kellnerin vor die Nase | |
| gestellt hat. Rechte, Linke, Liberale – die weißrussische Opposition ist | |
| zersplittert. Einige befürworten den Dialog mit der Regierung, andere sind | |
| strikt dagegen. Es gibt Gegner von Privatisierungen und es gibt welche, die | |
| darin das Heil sehen. Doch in einem sind sich alle erstaunlich einig: In | |
| Weißrussland wird es nicht zum Bürgerkrieg kommen. „Hier spricht man | |
| miteinander“, beteuert Oparin. Auch mit angeblichen Faulenzern. | |
| 26 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernhard Clasen | |
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