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# taz.de -- Petition der Woche: In Kassel geht es um die Wurst
> In Nordhessen lieben sie ihre Ahle Wurst. Jetzt scheint sie bedroht: Auf
> einem Kulturfest soll es sie nicht geben. Dagegen regt sich Widerstand.
Bild: Auch in Thüringen lieben sie die Wurst. Dort gibt es sogar Bratwurstkön…
Die [1][Ahle Wurst] ist Kultur, sie ist Heimat und Identität – für viele
Menschen in und um Kassel. Seit Jahrhunderten stellen Menschen in
Nordhessen sie her; halten Schweine, machen sie zu Wurst, die vier Wochen
reifen muss, dann ist sie hart und haltbar und gut.
Noch heute ist die Ahle Wurst nicht wegzudenken: Aus Fleisch reifer
Schweine, gewürzt mit Salz, Pfeffer, Knoblauch oder Kümmel, schmeckt die
Rohwurst einzigartig. Sie wurde als bedrohtes Kulturgut der Küche
aufgenommen in die „[2][Arche des Geschmacks]“, ihre Macher beantragten
2016 bei der EU-Kommission die [3][geschützte geografische Angabe für die
„Nordhessische Ahle Wurst“]; nicht jeder soll sein 08/15-Würstchen nach ihr
benennen dürfen.
Doch jetzt wurde sie verboten: Auf dem „Tag der Erde“, einem Kultur- und
Umweltfest in Kassel, soll dieses Jahr kein Fleisch verkauft werden. Die
Wolfsangerstraße im gleichnamigen Stadtteil bleibt am 23. April von 11 bis
18 Uhr vegetarisch. So hat es der Veranstalterverein Kulturhaus Kassel
entschieden. Sieben Stunden ohne Ahle Wurst!
Am 20. Februar initiierte Hartmut Schaumburg [4][eine Petition], um die
Wurst zu retten. „Gerade in Nordhessen, der Heimat der Ahlen Wurst, hat der
Verzehr der Bratwurst eine hohe Bedeutung“, heißt es da, sogar den
römischen Dichter Ovid bemüht er: „Wehret den Anfängen“, und prophezeit:
„Demnächst wird auch noch der Verzehr von Bier verboten.“ Das wäre ja mal
was! Die Entscheidung soll zurückgenommen werden; 2.400 Menschen haben
bereits unterschrieben.
## Platz oder Wurst?
Der Veranstalter sieht das anders. Das Kulturhaus Kassel richtet das Fest
seit 27 Jahren aus, rund 20.000 Menschen kamen letztes Jahr, 220 Stände gab
es. Dieses Jahr gehe das nicht. Vorstandsmitglied Hubert Grundler erklärt:
Jedes Jahr wird in einem anderen Stadtteil Kassels gefeiert. Dieses Jahr
ist der Wolfsanger dran, die Straße dort ist eng, Stände müssen weichen.
„Natürlich wollten wir dabei keinen Organisationen absagen, die sich um
Umwelt oder Nachhaltigkeit bemühen.“ Zuerst musste das Kunsthandwerk dran
glauben, dann fiel der Blick aufs Fleisch.
Keine Bratwurststände und keine, die, wie bisher, Ahle Wurst auf Brote
legten. „Fleisch ist ja allgemein ein Thema momentan“, sagt Grundler, „da
wollten auch wir uns positionieren.“ Er selber ist kein Vegetarier, will
also nicht missionieren. „Die Bratwurststände brauchen einfach
verhältnismäßig viel Platz, weil sie groß sind und eine bestimmte
Infrastruktur brauchen. Wir wollen hier mit Sicherheit kein fleischloses
Zeitalter einleiten.“
Dass das Thema so emotionalisiert, damit hatte der Verein nicht gerechnet.
Doch essen, das ist eben nicht nur Nahrungsaufnahme. Kultur, Zeitgeist und
Lebensumstände spiegeln sich darin, der Kult um die Ahle Wurst zeigt auch
die Verbindung zur Heimat. In den letzten Jahren ist sie wieder im Kommen.
Die [5][Kasseler Schlacken besingen sie in „Ahle Wurst“] („Hast du Ärger
und niemanden, der dich liebt, / dann ist die Ahle Wurst das Beste, was es
gibt“); [6][Wurschtekurse] führen ein ins Zerlegen von Schweinen und
Stopfen von Därmen; Gourmets treffen sich zur Verköstigung. Die Nordhessen
lieben ihre Wurst.
[7][Hendrik Haase] ist Essensaktivist; auch er hat eine persönliche
Beziehung zur Ahlen Wurst, so geht es vielen: „Die lag bei meiner Oma immer
auf dem Tisch oder in der Speisekammer.“ Bei einigen werde noch
geschlachtet und gewurstet, manche lassen sich die Wurst auch in ihre neue
Heimat schicken: „Ohne die kann ich nicht.“ Grund dafür ist, sagt Haase,
auch der identitätsstiftende Charakter der Wurst, die nicht in
Großbetrieben hergestellt werden kann. Es kommt auf die Würzung an und
darauf, dass das Fleisch bei der Verarbeitung noch warm ist. Das könne nur
in Hausschlachtung garantiert werden. Die Wurst ist also Rückbesinnung und
Selbstvergewisserung in der Tradition – ein Bekenntnis zur Region, eine
Absage an industrielles Essen.
Dennoch muss es dieses Jahr auf dem Tag der Erde auch mal ohne Wurst gehen.
Einen Tag lang, in einer Straße Kassels, das sollte auch den Wurstbewussten
möglich sein. Und ehrlich: Hat es die Ahle Wurst denn nötig, zu glauben,
nun sei es aus, nur wegen eines einzigen wurstfreien Tages?
1 Apr 2017
## LINKS
[1] /Die-Wahrheit/!5059122
[2] https://www.slowfood.de/biokulturelle_vielfalt/arche_des_geschmacks/
[3] http://ec.europa.eu/agriculture/quality/door/appliedName.html?denominationI…
[4] https://www.openpetition.de/petition/online/gegen-das-bratwurstverbot-am-ta…
[5] https://www.youtube.com/watch?v=ymCIW2JohHU
[6] https://www.ahle-wurscht.de/wurschtekurs-de.html
[7] http://hendrikhaase.com/
## AUTOREN
Johannes Drosdowski
## TAGS
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