# taz.de -- Buch über Rebellion in der DDR: Die Harmlosigkeit einer Revolution | |
> Wie ein paar junge Leute das bornierte System des „Sozialismus“ in | |
> Leipzig ins Wanken brachte, erzählt das neue Buch von Peter Wensierski. | |
Bild: Jugendliche der Umweltbewegung – allerdings der kirchlichen – sitzen … | |
Es ist kaum mehr als 25 Jahre her und erscheint doch wie eine Geschichte | |
einer vollkommen anderen Welt: In Leipzig haben zwei Dutzend junge Leute in | |
den Jahren 1988 und 1989 mit scheinbar harmlosen Aktionen das SED-Regime | |
vor aller Öffentlichkeit blamiert und damit erschüttert. Spiegel-Autor | |
Peter Wensierski zeichnet diese Geschichte unter dem Titel „Die unheimliche | |
Leichtigkeit der Revolution“ nach – es scheint, als wäre er immer dabei | |
gewesen, wo zwei oder drei dieser jungen Leute zusammen waren. Als junger | |
westlicher Korrespondent hat er diese beinahe Gleichaltrigen damals | |
kennengelernt und ihr Vertrauen gewonnen. Dadurch wird diese Geschichte | |
authentisch und gewinnt ihre Kraft. | |
Zum Beispiel die Pleiße, ein kleines Flüsschen in Leipzig. Die | |
Initiativgruppe Leben (IGL), die man harmloser nicht hätte benennen können, | |
hatte Zettel verteilt, auf denen für den Weltumwelttag am 5. Juni 1988 zu | |
einem „Gedenkmarsch“ für die Pleiße aufgerufen wurde. Die Pleiße, das ro… | |
jeder in Leipzig, war ein toter Fluss. In kleinen Gruppen wanderten | |
schließlich rund 140 Menschen entlang des Flüsschens, notierte die Stasi. | |
Harmloser geht es nicht. | |
Aber schon der Aufruf zu einer solchen Aktion war illegal. Das Bewusstsein | |
für Umweltprobleme war längst über die Mauer geschwappt, nach einem | |
Beschluss des Ministerrats vom 16. November 1982 sollten Umweltprobleme | |
offiziell geheim gehalten werden. Es konnte also kein Problem geben – nach | |
der Lesart des Regimes. Der harmlose Spaziergang, das war für alle | |
Beteiligten und alle Beobachter klar, schrie es hinaus in die Stadt: Die | |
SED lügt. | |
## Es gab Menschen, die sich trauen | |
Und es gibt Menschen, die sich trauen. Das war die Sensation. In ihrem | |
Übermut las einer vor den „Spaziergängern“ eine Schlagzeile aus dem | |
Zentralorgan Neues Deutschland vor: „Zur Minderung des Ausstoßes von | |
Schadstoffen werden in der DDR vielfältige Maßnahmen mit wachsendem Erfolg | |
realisiert.“ Es gab Beifall – ironischen. Man machte sich öffentlich über | |
das Regime lustig. | |
Bei der Vorbereitung des zweiten Gedenkmarsches ein Jahr später traten die | |
Veranstalter nicht mehr anonym auf, sondern versuchten offensiv, eine | |
Genehmigung für einen „Pilgerweg“ mit 500 erwarteten Teilnehmern zu | |
bekommen. 600 Stasimitarbeiter wurden in Leipzig mobilisiert, um den | |
Pilgerzug zu verhindern. | |
Die Pleißeaktion wurde zur Staatsaffäre. Stasichef Erich Mielke rief aus | |
Berlin in Leipzig an und gab die nebulöse Parole aus: „Es darf beim | |
Pleißemarsch zu nichts kommen.“ Nichts bedeutete: nichts, was den | |
Westmedien einen Anlass zur Berichterstattung geben könnte. Das waren die | |
Tage, in denen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Panzer | |
auffuhren. Volkspolizei und Stasi versuchten den Marsch zu verhindern – | |
vergeblich. Beim zweiten Mal nahmen schon mehr als tausend Leipziger teil. | |
Kein Westjournalist war nach Leipzig gekommen – dennoch gab es danach | |
Berichte. | |
Wie die jungen Leute, die das Leben in der Lüge nicht mehr mitmachen | |
wollen, ihren Spielraum Zentimeter um Zentimeter ausweiten, schildert diese | |
Geschichte der „leichten“ Revolution. Eine Situation, in der das | |
Kirchenlied „O komm, Du Geist der Wahrheit“ fast zur Revolte wird. Wie die | |
Kirchenleitung die „Montagsgebete“ untersagte, in denen Gemeindemitglieder | |
in Gebetsform alle möglichen Themen zur Sprache brachten – nicht nur die | |
der Umwelt, auch die der willkürlichen Verhaftungen. | |
Eine regelrechte Infobörse. Diese Bürgerrechtsbewegung in der DDR wurde | |
paradoxerweise auch vorangetrieben von denen, die offiziell einen | |
Ausreiseantrag gestellt hatten – sie ließen sich nicht mehr einschüchtern, | |
sondern agierten mit dem Mut derer, die nichts zu verlieren haben. Sie | |
machten die Erfahrung, dass ein offenes kritisches Wort vor der | |
Nikolaikirche die Ausreise beschleunigen kann. | |
Zu der großen Kraftprobe, die sich in dem Wensierski-Buch wie ein Krimi | |
liest, kam es im Januar 1989: „Initiative zur demokratischen Erneuerung der | |
Gesellschaft“ nannten sich die Aktivisten da schon, druckten illegal 6.000 | |
Flugblätter – die für den Tag des offiziellen Gedenkens an Rosa Luxemburg | |
und Karl Liebknecht zu einer Kundgebung vor dem Rathaus aufriefen. | |
Pressefreiheit, Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit | |
wurden gefordert. | |
Trotz der konspirativen Vorbereitung flog die Aktion auf – die Aktivisten | |
waren von Stasi-IMs unterwandert. Elf Flugblattverteiler wurden tagelang | |
mit großem Aufwand observiert und im Vorfeld verhaftet. Trotzdem fand die | |
Demonstration statt, mehr als 50 Teilnehmer wurden festgenommen. Inzwischen | |
waren die Medien im Westen in höchstem Maße sensibilisiert für die Vorgänge | |
in der DDR – es kam zu einer internationalen Solidaritätswelle. Sogar Petra | |
Kelly, die Grünen-Ikone, die in der DDR wegen ihres Protests gegen die | |
Nato-Rüstung von der SED hofiert worden war, schrieb einen offenen Brief an | |
Erich Honecker. Nach wenigen Tagen mussten alle Verhafteten freigelassen | |
werden. | |
Die Leipziger Stasi war damit vollkommen düpiert und musste sich von den | |
Genossen aus Berlin vorhalten lassen, dass sie eben „nicht alles im Griff“ | |
hatte. Der lokale Stasifunktionär versuchte seine treuen Spitzel mit einer | |
Geldprämie zu trösten. In Berlin war die Lage allerdings nicht anders. Dort | |
war die Umweltbibliothek in einer Nacht-und-Nebel-Aktion im Januar 1989 von | |
der Stasi gestürmt worden. | |
Es gab internationalen Protest – die Aktivisten bedankten sich später | |
ironisch bei der Stasi für die kostenlose Werbung für ihre Bibliothek, | |
während der verdiente hauptamtliche Stasimitarbeiter, Johann Holm, | |
zuständig für operative Vorgänge gegen „politische Untergrundtätigkeit“, | |
dafür noch Anfang Februar 1979 eine Prämie von 300 Mark erhielt. | |
## Vollkommen getrennte Welten | |
Es waren zwei vollkommen getrennte Welten, die der jungen Aufmüpfigen und | |
die der kleinkarierten Diener des Regimes. Das wird auch an einer kleinen | |
Begebenheit deutlich, die Wensierski genüsslich erzählt: Einer der | |
Aktivisten war kurz vor dem Termin einer klandestin geplanten Aktion | |
vorgeladen worden. Gründe dafür wurden üblicherweise in den schriftlichen | |
Vorladungen nicht genannt, um die Unsicherheit zu steigern. | |
Ein höherer Offizier in grauer Uniform baute sich hinter dem Schreibtisch | |
auf, erhob seine Stimme und verkündete: „Im Namen des Ministers für | |
Nationale Verteidigung […], ich degradiere Sie zum Soldaten der Nationalen | |
Volksarmee.“ Der damit degradierte Unteroffizier hatte große Mühe, sein | |
Grinsen zu verbergen. | |
Selbst das Ansinnen, Straßenmusik zu machen, ging dem bornierten | |
Behördenapparat zu weit, der in der Ära Gorbatschow noch das alte Lied vom | |
Sozialismus spielen wollte und die – für unser Empfinden harmlosen – | |
Lebensbedürfnisse junger Menschen nicht mehr verstand. Im Verlaufe des | |
Jahres 1989 haben die Bürgerrechtler in Leipzig eine symbolische Machtprobe | |
nach der anderen gewonnen. Im Herbst des Jahres umzingelten Zehntausende | |
auf den Montagsdemonstrationen die Nikolaikirche und schleuderten den | |
verunsicherten Volkspolizisten die Parole „Wir sind das Volk“ entgegen. | |
29 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Klaus Wolschner | |
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