Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Türkei vor dem Referendum: Retter ohne Nation
> Recep Tayyip Erdoğans Allmachtspläne waren in der Türkei nie populär.
> Warum der Präsident so aufs Ausland schielt.
Bild: Das war 2015. Heute muss sich die HDP-Vorsitzende in Dutzenden Prozessen …
Istanbul taz | Murats Berber-Salonu, also der Friseursalon von Murat, ist
ein Treffpunkt in unserem Viertel. Murat kennt hier jeden. Seit Wochen gibt
es nur ein Thema: Erdoğans Volksabstimmung im April und wer wohl mit Nein
oder Ja stimmen wird. Stolz präsentiert Murat dem deutschen Kunden eine
DIN-A4-große Pappkarte, auf der die Ergebnisse seiner persönlichen
Meinungsumfrage notiert sind.
Er hat nicht nur seine Kunden befragt, sondern auch die des Gemüsehändlers
nebenan, des Bäckers gegenüber und war in dem kleinen Restaurant an der
Ecke. Die Ergebnisse der einzelnen Befragungsorte hat Murat gesondert
aufgelistet. Sie schwanken, aber alle kommen doch zu demselben Ergebnis:
Die Neinsager liegen knapp vorn.
Glaubt man den Umfrageergebnissen von fast allen unabhängigen Instituten,
sind die Zahlen von Murat sogar repräsentativ für die Türkei. Die
Demoskopen sehen die Neinsager vorne, manche sogar mit einem Vorsprung von
8 bis 9 Prozent. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Führung seiner AKP
wissen das natürlich und sind entsprechend nervös.
Ein türkischer Kollege, der wie fast alle Gesprächspartner derzeit
namentlich nicht genannt werden will, weist auf einen fundamentalen
Unterschied zwischen früheren Wahlkämpfen und der jetzigen
Referendumskampagne hin: „Erdoğan“, sagt er, „hat bislang immer die Them…
gesetzt, und die Opposition lief dem hinterher. Dieses Mal ist es anders.
Erdoğan hat keine eigene Botschaft, sondern er beschimpft die Opposition
als Terroristen, statt positiv für das Referendum zu werben.“
Damit bringt er das Dilemma des Präsidenten auf den Punkt. Die
Verfassungsänderung, die ihm nahezu unbeschränkte Machtbefugnisse bringen
soll, ist einfach nicht populär. Jahrelang hat Erdoğan für seine
Alleinherrschaft geworben, und jahrelang hat sich gezeigt, dass die
Mehrheit der türkischen Wähler und Wählerinnen sie nicht will. Erst der
gescheiterte Putschversuch hat noch einmal die Situation für einen letzten
Anlauf geschaffen; seit Juli vorigen Jahres kann sich Erdoğan als „Retter
der Nation“ präsentieren. Ohne den Putschversuch wäre die notwendige
Verfassungsänderung wohl schon am Widerstand in der eigenen Partei
gescheitert. Mit Ausrufung des Ausnahmezustands regiert Erdoğan per Dekret
und lässt keinen Widerspruch mehr zu. Jeder AKP-Funktionär, der seine
Alleinherrschaft öffentlich angezweifelt hätte, wäre sofort als
„Gülen-Sympathisant“ denunziert und verhaftet worden.
## Flüsterpropaganda
Trotzdem kann sich Erdoğan der AKP nicht sicher sein. Ihre Abgeordneten
wurden in der entscheidenden Abstimmung im Parlament verfassungswidrig
gezwungen, offen zu votieren, doch das Referendum bietet nun Gelegenheit,
sich zu revanchieren. Insider munkeln, auch ehemalige Gründungsmitglieder
der AKP, die Erdoğan in den vergangenen Jahren alle aus dem Weg geräumt
hat, würben nun per Flüsterpropaganda für ein Nein. Besonders in
AKP-Hochburgen könnte das zu einer bösen Überraschung für Erdoğan führen.
Während der Widerspruch innerhalb der AKP nur im Geheimen zum Tragen kommt,
versucht die Opposition, eine öffentliche Nein-Kampagne auf die Beine zu
stellen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Die kurdische linke
HDP ist in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt, nachdem Erdoğan
die Parteiführung bereits im Oktober 2016 ins Gefängnis werfen ließ.
Während die HDP draußen für ein Nein wirbt, müssen sich die beiden
Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ in Dutzenden Prozessen
den immer gleichen Vorwürfen angeblicher Terrorpropaganda, der
Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung oder zumindest der
Präsidentenbeleidigung stellen. Beide sind in erster Instanz schon zu
etlichen Jahrzehnten Haft verurteilt worden, Yügsekdağ wurde von einem
Gericht sogar ihre Parteimitgliedschaft aberkannt.
Doch auch für die sozialdemokratische kemalistische CHP und ihren
Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu ist es nicht leicht. Während Erdoğan sich
scheinheilig über die Behinderung seines Wahlkampfes in Europa beklagt,
wird in der Türkei die Opposition mit allen Mitteln des Staates bekämpft.
Demonstrationen sind verboten, Jugendliche, die Nein-Plakate kleben,
werden verhaftet, Fernsehmoderatoren, die Sympathien für ein Nein erkennen
lassen, gefeuert, und selbst Sänger, die populäre Songs in Nein-Lieder
umdichten, müssen sich auf den Staatsanwalt gefasst machen. Die Hysterie
geht so weit, dass die Antialkoholikervereinigung Plakate, auf denen für
ein Hayır (Nein) zum Alkoholgenuss geworben wurde, wieder abhängen musste,
damit womöglich nicht noch eine Wählerin oder ein Wähler auf falsche
Gedanken kommt.
Trotzdem gibt es eine breite Bürgerbewegung für das Nein. Ihre Hoffnung, am
16. April Erdoğans Machtbestrebungen Einhalt zu gebieten, ist in dieser
Woche allerdings kleiner geworden. Der Streit mit den Niederlanden
eskalierte, Familienministerin Kaya wurde in Rotterdam gestoppt, die Stadt
hatte zuvor den Auftritt von Außenminister Çavuşoğlu bei einer Kundgebung
untersagt. Die „Terrornacht“ von Rotterdam, wie die Vorgänge im AKP-Lager
getauft wurden, könnte zum game changer werden, befürchten CHP-Chef
Kılıçdaroğlu und andere.
Die angeblichen Angriffe in Europa könnten Erdoğan die entscheidenden 2 bis
3 Prozent aus dem nationalistischen Lager bringen, wie die Kolumnistin Ahu
Özyurt unlängst schrieb. Die Auseinandersetzung mit Europa gibt Erdoğan die
Gelegenheit, „seine Lieblingsrolle als Opfer“ neu aufzulegen, sagt Özyurt.
Doch selbst das, hofft Meral Akşener, ehemalige Politikerin der
rechtsnationalistischen MHP, die jetzt die Nein-Kampagne mit anführt, wird
Erdoğan nichts mehr nutzen. „Die Bevölkerung, vor allem in den kleineren
Städten, ist verzweifelt. Sie interessiert sich nicht für Holland, sondern
für die hohe Arbeitslosigkeit und ständig steigenden Preise.“
19 Mar 2017
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
## TAGS
Türkei
Schwerpunkt AKP
Recep Tayyip Erdoğan
Deniz Naki
Türkei
Verfassungsreferendum
EU-Türkei-Deal
Schwerpunkt Deniz Yücel
PKK
Türkei
Türkei
Senat Bremen
Putschversuch Türkei
## ARTIKEL ZUM THEMA
Fußballer vor Gericht in der Türkei: Freiheit nur auf dem Arm
In Diyarbakır drohen dem deutschtürkischen Fußballer Deniz Naki bis zu fünf
Jahre Gefängnis. Ihm wird Terrorpropaganda vorgeworfen.
HDP-Politiker über Erdoğans Referendum: „Ein Europa-Feindbild erzeugen“
Polarisierung und Spaltung – so soll von den Inhalten der neuen Verfassung
abgelenkt werden. Der HDPler Mithat Sancar beschreibt Erdoğans Taktik vor
dem Referendum.
Erdoğan zu Nazi-Vergleichen: Das lässt er sich nicht verbieten
Wer ihn Diktator nenne, müsse sich auch als Faschist bezeichnen lassen,
lässt der türkische Präsident verlauten. Er plane vorerst keinen
Deutschland-Besuch.
Politisches Buch zur Türkei: Scheitern des islamischen Liberalismus
Das türkische Modell galt mal als Hoffnungsträger. Cihan Tuğal analysiert,
was in der Zwischenzeit in der Region passiert ist.
Kommentar Türkischer Wahlkampf: Möglichst viel herausschlagen
Völlig von Sinnen? Dass die türkische Regierung plötzlich alle
Wahlkampfveranstaltungen in Deutschland absagt, ist keine Laune, sondern
fein kalkuliert.
Türkischer Präsident über Journalisten: Deniz Yücel ist „Terror-Agent“
Die Lage für den seit drei Wochen in Untersuchungshaft sitzenden
Journalisten Deniz Yücel verschärft sich. Der türkische Präsident
bezeichnet ihn als Terror-Helfer.
BND-Chef zum Putschversuch in Türkei: Vorwand für Massenentlassungen
Der BND-Chef bezweifelt, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch
stand. Erdoğans Sprecher wirft Deutschland die Unterstützung Gülens vor.
Kurdische Demo in Frankfurt/Main: Zehntausendfach „Nein zur Diktatur“
Kurden mobilisieren in Frankfurt zum Neujahrsfest Newroz gegen die
Referendumspläne des türkischen Präsidenten Erdogan. Der Zulauf überrascht
selbst die Organisatoren.
Türkischer Wahlkampf in Deutschland: Hannover sagt Nein
Ein hochrangiger AKP-Politiker darf nicht in Hannover auftreten.
Niedersachsens Innenminister macht Sicherheitsbedenken geltend. Andere
Städte prüfen noch.
Türkischer Wahlkampf im Norden: Erdoğan auf Stimmenfang
In Bremerhaven will eine AKP-Politikerin für Zustimmung zum türkischen
Referendum werben. Behörden prüfen ein Verbot. Weitere AKP-Auftritte im
Norden stehen an.
Die Türkei organisiert sich paramilitärisch: Die Bürgerarmee des Präsidenten
Erst die Exekutive, nun der Bürger. Die Bevölkerung wird bewaffnet, damit
sie bei Bedarf Straßenschlachten für Erdoğan austrägt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.