# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Widersprüche des Justin Trudeau | |
> Kanadas Premier gilt als linker Sunnyboy. Er setzt sich für Minderheiten | |
> ein, doch er steht auch für Freihandel und Waffengeschäfte mit | |
> Diktatoren. | |
Bild: Bei so viel Güte kann einem ganz schwummerig werden | |
Die Medien lieben Kanadas Premierminister Justin Trudeau. Unter seiner | |
Führung hat die Liberale Partei Kanadas (LPC) im Oktober 2015 die | |
Parlamentswahl gewonnen. Er ist jung und gutaussehend, auf dem Oberarm | |
trägt er ein Tattoo mit dem Emblem der Haida, eines indigenen Volks von | |
Kanada, und auf Facebook hat er 3,5 Millionen Follower. Die britische | |
Wochenzeitschrift The Economist nannte ihn „ein Vorbild für die Welt“, das | |
Klatschportal E-Online beschrieb ihn als „superheiß und zuckersüß“. Er | |
taucht regelmäßig in der Onlinewerbung der New York Times auf, die | |
neuerdings viel über Kanada berichtet. | |
Trudeau verbindet den Glamour eines Medienstars mit dem Charisma eines | |
Barack Obama und der Volksnähe seines Vaters Pierre, der von 1968 bis 1979 | |
und von 1980 bis 1984 Premierminister war. Er hat sich mit syrischen | |
Flüchtlingen fotografieren lassen und vor Besuchern einer Moschee in Ottawa | |
erklärt, Kanada sei „stärker dank der Beiträge seiner muslimischen | |
Gemeinschaft“. [1][Er nimmt für sich in Anspruch, Feminist zu sein], und | |
setzt sich für die indigenen Völker Kanadas ein. Er gilt als cool, weil er | |
den Marihuanakonsum legalisieren will, sein Name und sein Porträt schmücken | |
Päckchen mit Zigarettenpapier für Joints. Wie Emmanuel Macron in Frankreich | |
ist er Hoffnungsträger, ein Liberaler des 21. Jahrhunderts, eine Gegenfigur | |
zu Leuten wie Theresa May und Donald Trump. | |
[2][Für Trudeaus Kabinett] – dem genauso viele Frauen wie Männer angehören, | |
vier Sikhs, zwei kanadische Ureinwohner, ein Muslim und ein Jude – gab es | |
in den Medien großes Lob. Es besteht aber auch zu 45 Prozent aus typischen | |
Karrierepolitikern, Anwälten und Verwaltungsbeamten. Trudeau ist stolz auf | |
sein Team, ganz besonders auf seinen Verteidigungsminister Harjit Sajjan. | |
Sajjan ist Sikh. Der ehemalige Kriminalbeamte aus Vancouver, der 1996 ein | |
Patent auf eine für Bartträger geeignete Gasmaske angemeldet hat, war eine | |
Zeit lang Agent des kanadischen Geheimdienstes CSIS. Anfang des | |
Jahrtausends war er in Afghanistan dafür zuständig, von Kanadiern | |
festgenommene Kriegsgefangene an die afghanischen Behörden zu übergeben, | |
und er wirkte auch an dem Programm der Vereinigten Staaten zur Überstellung | |
von Terrorverdächtigen mit. Die Medien interessieren sich vor allem für | |
seinen Bart und seinen Turban. | |
## Linker als die Arbeiterpartei | |
Trudeau wurde auch gewählt, weil er den Eindruck vermittelte, er sei gegen | |
Sparpolitik, gegen wirtschaftliche Ungleichheit und Tatenlosigkeit beim | |
Klimawandel. Er spricht gern von „positiver Politik“. In seiner Rede nach | |
dem Wahlsieg sagte er: „Wir schlagen Furcht mit Hoffnung. Wir schlagen | |
Zynismus mit harter Arbeit. Wir schlagen negative, spaltende Politik mit | |
einer positiven Vision, die die Kanadier vereint … Optimismus, meine | |
Freunde, Optimismus. Das kann positive Politik erreichen.“ | |
Mit seinen Plänen für Investitionen in die Infrastruktur und ein Ende der | |
Sparpolitik wirkte er linker als die Neue Demokratische Partei (NDP), die | |
traditionelle Vertretung der Arbeiterschaft. Die schien nach dem Tod ihres | |
populären Vorsitzenden Jack Layton nach rechts gerückt zu sein, weshalb | |
viele Gewerkschafter zur Liberalen Partei abwanderten. | |
Hassan Yussuf, der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbands CLC, hat im | |
vergangenen September von einem „Gefühl des Optimismus“ in der | |
Arbeiterbewegung gesprochen. Wenige Tage zuvor hatte es eine vorübergehende | |
Lösung des Konflikts zwischen der kanadischen Post und der mächtigen, | |
kämpferischen Gewerkschaft der Postbediensteten (CUPW) gegeben. Dabei hatte | |
sich die Regierung nicht auf die Seite der Arbeiter geschlagen, sondern | |
lediglich zugesagt, dass sie Tarifverhandlungen erlauben und die Leute | |
nicht per Gesetz zurück an die Arbeit zwingen würde – so wie es bei einem | |
früheren Arbeitskampf die Regierung Harper getan hatte. Yussufs | |
vorsichtiger Optimismus steht im Gegensatz zur Position der CUPW, die ihren | |
Kampf für die Umstrukturierung des öffentlichen Diensts fortsetzen will. | |
Viele Gewerkschaftsführer im privaten Sektor unterstützen Trudeau und sein | |
Konzept der „progressiven Wettbewerbsfähigkeit“. Kanada sei „mit seiner | |
wirtschaftlichen, steuerlichen, politischen und sozialen Stabilität ein | |
äußerst attraktiver Ort, um Geschäfte zu machen“. Viele einfache | |
Gewerkschaftsmitglieder lehnen seine Politik jedoch ab. Im letzten Oktober | |
hatte ihn der kanadische Gewerkschaftstag zu einem Jugendforum eingeladen. | |
Aus dem Publikum kam Kritik, weil Trudeau die Transpazifische Partnerschaft | |
(TPP) unterstützt. Als er sagte, prekäre Arbeitsverhältnisse seien nun | |
einmal „eine Tatsache des Lebens“, wurde er ausgebuht. | |
## Waffengeschäfte mit Diktaturen | |
Trudeau steht auch hinter dem Freihandelsabkommen Ceta zwischen Kanada und | |
der EU. Anders als viele Politiker und Ökonomen, die die Ideologie des | |
Freihandels inzwischen in Zweifel ziehen, hält er daran fest: Die Freiheit | |
des Handels fördere Offenheit und Freundschaft zwischen den Ländern. Doch | |
Trudeau handelt anders, als er redet. Er präsentiert sich als Streiter für | |
die Menschenrechte, während sein Land mehr Waffen denn je an Diktaturen | |
verkauft. Kanada ist nach umfangreichen Waffengeschäften mit Saudi-Arabien | |
mittlerweile der zweitgrößte Waffenlieferant in den Nahen Osten. | |
Der ehemalige Außenminister Stéphane Dion stellt diese Handelsbeziehungen | |
als Hebel dar, um positiv auf das Königreich Saudi-Arabien einzuwirken. | |
Möglich wurden sie erst durch eine neue gesetzliche Regelung. Früher waren | |
Waffenexporte von Konsultationen abhängig, in denen die Auswirkungen auf | |
die internationale Sicherheit und die Menschenrechte geprüft wurden. In der | |
Neufassung heißt es nun lediglich, dass es Konsultationen „geben kann“. | |
Wie John Bell von der Zeitschrift Socialist Worker betont, durften Waffen | |
aus Kanada früher nicht „für Zwecke eingesetzt werden, die die Sicherheit | |
Kanadas, seiner Verbündeten oder anderer Länder und Menschen gefährden“ | |
könnten. In der von Trudeau abgesegneten Neufassung wurde die entscheidende | |
Formulierung „anderer Länder und Menschen“ durch „Zivilisten“ ersetzt. | |
Pierre Trudeau, der Vater, hatte sich während des Kalten Kriegs um einen | |
außenpolitischen Sonderweg bemüht: Trotz guter Nachbarschaft zu den USA | |
unterhielt Kanada gute Beziehungen zu Kuba und China. Gleichzeitig baute er | |
einen starken Wohlfahrtsstaat auf und schreckte nicht vor Eingriffen in die | |
Wirtschaft zurück. So verstaatlichte er mit Unterstützung der | |
sozialdemokratischen NDP die Ölförderung. | |
## Lukrative Freundschaft mit China | |
Sohn Justin sucht nun ebenfalls die Annäherung an China und eine Beendigung | |
des gespannten Verhältnisses, das unter seinem Vorgänger Stephen Harper | |
sogar dazu geführt hat, dass Kanada nicht an den Olympischen Spielen in | |
Peking 2008 teilnahm. Trudeau bewundert die chinesische Gesellschaft, | |
insbesondere ihre – mit nicht gerade demokratischen Mitteln erzielte – | |
Effizienz. Letzten August wurde er in China herzlich empfangen. Jack Ma, | |
der Chef des Onlinehandelsriesen Alibaba, nannte ihn „die Zukunft Kanadas“. | |
Drei Wochen nach diesem Besuch, bei dem Geschäfte im Wert von 1,2 | |
Milliarden Dollar vereinbart wurden, reiste Chinas Ministerpräsident Li | |
Keqiang nach Ottawa. Die beiden Regierungschefs kündigten Verhandlungen | |
über ein Freihandelsabkommen an. Das freute die kanadischen | |
Bergbauunternehmen, die Landwirtschafts- und Nahrungsmittelindustrie und | |
die multinationalen Finanzkonzerne genauso wie die chinesisch-kanadische | |
Business Community, die die LPC mit großzügigen Spenden unterstützt. | |
Kanadas Annäherung an China steht im Gegensatz zu Donald Trumps Drohungen | |
mit einem Handelskrieg. Trotzdem gibt es Übereinstimmungen in der | |
kanadischen und der US-Politik: Trudeau befürwortet die extensive | |
Ausbeutung von Ölsandvorkommen und den Bau der umstrittenen | |
Keystone-XL-Pipeline, den Trump an einem seiner ersten Tage im Amt | |
verordnete. Und er rühmt sich seiner besonderen Beziehung zu Argentiniens | |
konservativem Präsidenten Mauricio Macri, dessen Vater schon in den 1980er | |
Jahren Geschäfte mit Trump machte. | |
Obwohl Trudeau angedeutet hat, im Nahostkonflikt eine neutrale Position | |
einnehmen zu wollen, ist er von der israelfreundlichen Politik der | |
Regierung Harper nicht abgerückt, sondern hat sie noch verstärkt. Im | |
Februar 2016 unterstützte er einen Antrag der Konservativen Partei, die | |
Initiative „Boycott, Divestment and Sanctions“ zu verurteilen, weil sie mit | |
ihrer „Dämonisierung und Delegitimierung“ des Staates Israel den | |
Antisemitismus schüre. Im August wurde eine Lehrerin in Mississauga in der | |
Provinz Ontario wegen Beteiligung an Solidaritätskampagnen für Palästina | |
entlassen. | |
## Scheinheilige Kolonialismuskritik | |
Trudeau schafft es hervorragend, Geopolitik und Wirtschaft von der | |
Innenpolitik zu trennen. Mit seinem Kabinett hat er ein Zeichen gegen | |
Rassismus gesetzt, das gut gemeint, aber dennoch paternalistisch ist. Bei | |
einem Treffen mit Studenten der New York University im April 2016 sagte er | |
zum Thema indigene Völker: „Wir haben sie beständig ausgegrenzt, uns wie | |
eine Kolonialmacht aufgeführt.“ Die Regierung Harper hatte noch rundweg | |
bestritten, dass es in Kanada überhaupt Kolonialismus gab. | |
Tatsächlich hat Trudeau die Kolonisierung der indigenen Territorien noch | |
verschärft. Das geht aus seiner Formulierung hervor: Er spricht von | |
„Menschen, die in Kanada leben“, und negiert damit, dass Kanada in den | |
Augen der indigenen Völker und zahlreicher progressiver Kanadier Nationen | |
kolonisiert hat, die auf heutigem kanadischen Territorium lebten – eine | |
moderne Version der „parzellierten Souveränität“, wie Perry Anderson das | |
genannt hat. Indigene Völker sind nicht „Menschen, die in Kanada leben“ | |
oder „Minderheiten“ (wie Juden und Koreaner). In den frühesten | |
Übereinkünften mit europäischen Siedlern aus dem 17. Jahrhundert wurden sie | |
als „Nationen“ anerkannt, die mit dem kanadischen Staat auf Augenhöhe | |
verhandelten. | |
Im Oktober 2015 erklärte Trudeau im Fernsehsender der Ureinwohner, die | |
indigenen Völker hätten das Recht, gegen Bohrungen auf ihrem Land ein Veto | |
einzulegen. Das steht im Einklang mit der Erklärung der Vereinten Nationen | |
über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP) aus dem Jahr 2007. Dort heißt | |
es in Artikel 19: „Die Staaten verständigen sich und kooperieren nach Treu | |
und Glauben mit den betroffenen indigenen Völkern …, um ihre freiwillige | |
und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung zu erhalten, | |
bevor sie Gesetzgebungs- oder Verwaltungsmaßnahmen beschließen und | |
durchführen, die sich auf diese Völker auswirken können.“ | |
Aber Trudeau stimmte schließlich doch umweltschädlichen | |
Ölpipeline-Projekten und seismischen Messungen zu, gegen die sich die | |
Tsleil-Waututh Nation auf Vancouver Island in British Columbia und die | |
Inuit in Clyde River auf Baffin Island im nördlichen Territorium Nunavut | |
seit Jahren wehren. Der indigene Aktivist Russell Diabo meint dazu, es gebe | |
eine lange Tradition, dass liberale Regierungen „öffentlich nette Dinge“ | |
sagten, aber dann mit ihrem kolonialistischen Gebaren einfach | |
weitermachten. Der Experte für indigene Angelegenheiten, Warren Bernauer, | |
verwies auf Kanadas eigene Energiebehörde, derzufolge seismische Messungen | |
(gegen die inzwischen geklagt wird) nicht auf „freiwillige und in Kenntnis | |
der Sachlage erteilte Zustimmung“ stoßen. | |
Trudeau ist einer der wenigen einflussreichen Politiker, die Immigranten, | |
Minderheitenrechte und Offenheit verteidigen. Die Kanadier schauen sich | |
Donald Trump an, Theresa May, Wladimir Putin, Viktor Orbán oder Narendra | |
Modi, malen sich aus, dass Marine Le Pen französische Staatspräsidentin | |
werden könnte, und stoßen dann einen Seufzer der Erleichterung aus. Aber | |
genau da liegt die Gefahr. Trudeaus „Progressivität“ ist Teil einer | |
grundsätzlichen Veränderung der politischen Landschaft. Das Muster links, | |
Mitte, rechts gilt nicht mehr. Heute stehen sich Propagandisten des | |
politischen-wirtschaftlichen Nationalismus und Anhänger der | |
kapitalistischen Globalisierung gegenüber. | |
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer | |
5 Mar 2017 | |
## LINKS | |
[1] /Kanadas-Angst-nach-der-US-Wahl/!5356717 | |
[2] /Kabinettsumbau-in-Kanada/!5371330 | |
## AUTOREN | |
Jordy Cummings | |
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