Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Der Impf-Schamane
> In Berlin sorgt ein neuer Kindermedizinmann für Furore. Er nimmt kleinen
> Patienten wie besorgten Müttern die Angst.
Bild: Diplom-Schamane Indigo blickt in die Zukunft der Medizin
Im Berliner Kollwitzkiez, zwischen „Heidis Hexenlädchen“ und „A. Rivas
magische Öle“ befand sich bis vor Kurzem die Praxis des Kinderarztes Dr.
Thomas Sander. Jetzt steht „Leander-Abraxas Indigo, Dipl. Schamane“ in
runischen Lettern auf dem Türschild.
Dass es sich bei Dr. Sander und Leander-Abraxas Indigo um ein und dieselbe
Person handelt, wissen nur die wenigsten. Von den Patienten weiß es
niemand. Denn Indigos Patienten sind ohne Ausnahme Impfgegner. Viele
glauben zudem an Chemtrails, Reptiloiden oder dass die Erde eine Scheibe
ist. Im Gespräch mit der Wahrheit bezeichnet sich Indigo scherzhaft als
Impf-Schamane, aber in der Praxis ist das I-Wort natürlich tabu.
„Wir haben diesen Menschen das Impfen und Medizin im Allgemeinen sehr
schlecht verkauft“, meint Indigo, „viel zu verkopft und wissenschaftlich.
Leute, die an Wahrsagerei und heilende Steine glauben, können mit
rationalen Erklärungen und logischen Gedankengängen nichts anfangen. Aber
man muss sie trotzdem schützen, nicht wahr?“ Wir nicken: „Vor allem vor
sich selbst.“ Indigo lächelt versonnen: „Und da hab ich mir gedacht, man
muss diesen Menschen das Impfen einfach auf andere Weise nahebringen. Mit
einem Hauch Mystik und Magie. Und so wurde ich zum Impf-Schamanen.“
## Das Schlucki-Schlucko-Ritual
Eine Mutter mit ihrem etwa sechsjährigen Sohn betritt Indigos Praxis, und
wir werden Zeugen des Schlucki-Schlucko-Rituals, das den bösen Geist
Polio-Polio bannen soll, der kleine Kinder lähmt.
„Schlucki-Schlucko ist polynesische Gott der Gesundheit“, erklärt die
Mutter ihrem Sohn mit ehrfürchtiger Stimme, während Indigo mit blauer
Kreide kleine Sternchen und Dreiecke auf die Stirn des Jungen zeichnet,
wobei er „tally man, tally man, tally me banana“, vor sich hin murmelt. Nun
trinkt der Junge die Schlucki-Schlucko-Essenz aus einem kleinen
Terrakotta-Napf, der mit esoterischen Symbolen verziert ist. Die
Schlucki-Schlucko-Essenz, erklärt Indigo der gebannt lauschenden Mutter,
sei eine Mischung aus dem Saft der Pan-Tau-Wurzel und dem Öl der
Takatuka-Nuss, von einem Hohepriester des Tröpfchen-Kultes auf der
Osterinsel während einer Vollmondnacht mit magischer Heilkraft aufgeladen.
„Ihr Sohn muss den blauen Kristallhut die nächsten drei Tage auf dem Kopf
tragen“, sagt Indigo beim Abschied zur Mutter, „damit der hinterlistige
Polio-Polio sich nicht durch die Chakren Zutritt verschafft.“
„Wir waschen unser Obst und Gemüse nie“, erklärt die nächste Mutter, ein
dürres Gespenst mit gelblicher Hautfarbe, „alles kommt natürlich auf den
Tisch, mit der Urkraft von Mutter Gaia.“ Das blasse kleine Mädchen, das sie
dabei hat, leidet an chronischem Durchfall, welchen die Mutter nach
eingehender Recherche in einschlägigen Internetforen als parasitäre
Lebensform vom Planeten Xul identifiziert hat.
Indigo bestätigt sie in ihrer Diagnose: „Der außerirdische Parasit wird mit
dem Essen aufgenommen. Sie müssen die Nahrung vor dem Verzehr einem
magischen Reinigungsritual mit frischem Leitungswasser unterziehen.“
Nun steht noch eine Masern-Impfung an, im Impf-Schamanen-Jargon als „Biss
des Regenbogendrachens“ bezeichnet. „Es pikst nur ganz ein bisschen“, sagt
Indigo zu dem einjährigen Jungen und versteckt die Spritze in einem
buntbemalten Drachenkopf aus Porzellan. Behutsam nähert er sich mit der
Nadel dem Arm des Jungen, der auf dem Schoß seiner noch ängstlicheren
Mutter sitzt. „Du musst dich von dem netten Drachen beißen lassen“, sagt
die in wallende Tücher eingehüllte Frau zu dem Kind, „oder willst du etwa,
dass der Fluch der Roten Punkte über dich kommt? Daran kann man sterben.“
## Die rituellen Impfutensilien
„So, fertig“, sagt Indigo und hängt den Drachenkopf zu den anderen
Impfutensilien, die da wären: Der Adler der die Würgschlange vertilgt
(Mumps); Der Stich des Einhornhorns (Röteln); Der Zauberschild des
Skarabäus (Tetanus); Der Kuss des fliegenden Delphins (Keuchhusten) …
„Das sieht alles ganz schön teuer aus“, meinen wir mit einem Blick auf die
buntbemalten Tierköpfe aus Jade, Porzellan, Kupfer und anderen Metallen.
„Zahlt alles die Bundesregierung“, erklärt Indigo. „Ich bin Teil eines
Pilotprojekts. Bisherige großangelegte Kampagnen staatlicher Stellen haben
keinen Erfolg gebracht, da sie ausschließlich an die Vernunft appellierten.
Ich dagegen biete was für Herz und Bauch.“
Und es funktioniert. Die kleinen Patienten stehen Schlange, die Praxis
läuft besser als je zuvor. Ob er denn nicht befürchtet, dass der Trick
auffliegen wird, wenn dieser Artikel erscheint, fragen wir den
Impf-Schamanen, als wir uns verabschieden. Der lacht nur kurz auf: „Wer
glaubt schon der Lügenpresse? Eine ganz üble Kampagne gegen meine Person,
von der Pharma-Industrie und den Illuminaten gesteuert.“
28 Feb 2017
## AUTOREN
Francis Kirps
## TAGS
Impfung
Schwerpunkt Coronavirus
USA
Singvögel
Proletariat
Saarland
Guatemala
FDP
Katar
Impfung
Asyl
Religion
Ice Bucket Challenge
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Alle geben ihr Impf dazu
Deutschland im Senfchaos. Betroffene, Hintergründe, Strategien. Was läuft
falsch im Senfland? Wird bis zum Beginn der Grillsaison alles gut?
Sohn von Impfgegnern erkrankt in USA: Tetanus heilen kostet 800.000 Dollar
Weil seine Eltern ihn nicht impfen ließen, erkrankte ein Sechsjähriger in
Oregon an Tetanus. Seine Heilung dauerte über zwei Monate.
Die Wahrheit: Piranhas der Lüfte
Rotkehlchen im Blutrausch: Heimische Singvögel reagieren mittlerweile in
besorgniserregend brutaler Weise auf das Insektensterben.
Die Geschichte der Impfgegner: Nicht pieksen, ich habe Argumente
Die historische Anti-Impf-Bewegung war proletarisch geprägt. Heute besteht
sie vor allem aus Menschen mit akademischer Bildung.
Die Wahrheit: Grunzlaute aus dem Saarland
Nur selten dringen Nachrichten aus der abgeschiedenen Heimat der neuen
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer.
Masernfall in Guatemala: Aus Deutschland importiert
Guatemala ist seit 20 Jahren masernfrei. Jetzt hat eine Schülerin die
Krankheit bekommen – nachdem sie zum Schüleraustausch in Deutschland war.
Folgen von Impflücken: 190.000 Todesfälle in Deutschland
Seit 2007 starben rund 190.000 Menschen in Deutschland an Erkrankungen,
gegen die man sich impfen lassen kann. Das geht aus einer kleinen Anfrage
der FDP hervor.
Die Wahrheit: Wirrwarr in Katar
Neue historische Erkenntnisse zur diplomatischen Krise rund um das
Golf-Emirat. Die Lösung liegt auf der Hand beziehungsweise im Korb …
Eltern-Lobbyist über Impfungen: „Zwang ist ein schlechtes Mittel“
Kitas sollen die Behörden informieren, wenn Eltern sich gegen die Impfung
ihres Kindes sperren. Ein Gespräch mit Norman Heise von der
Bundeselternvertretung.
Die Wahrheit: Delfine des Orients
Um die Sympathiewerte von Flüchtlingen in der Bevölkerung zu steigern,
werden sie nun in artgerechter Umgebung präsentiert.
Die Wahrheit: Ungeheilte Seelen atmen auf
„Jede Zeitungslektüre wird zur Folter“: Endlich ist die Verletzung
religiöser Gefühle als medizinisches Krankheitsbild anerkannt.
Die Wahrheit: Mütchen gekühlt
Die globale Ausbreitung des Internethypes Ice Bucket Challenge hat
unabsehbare Folgen für die Menschheit und die Umwelt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.