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# taz.de -- Die Geschichte der Impfgegner: Nicht pieksen, ich habe Argumente
> Die historische Anti-Impf-Bewegung war proletarisch geprägt. Heute
> besteht sie vor allem aus Menschen mit akademischer Bildung.
Bild: Impfung, 1883
Mehr als 20.000 Menschen ziehen 1885 im britischen Leicester mit einem
Kindersarg durch die Straßen. Es sind Impfgegner der ersten Stunde, die
gegen die fortschreitende Impfpflicht demonstrieren. Die neue Methode zum
Schutz vor Krankheiten breitet sich in Europa aus, nachdem im 18.
Jahrhundert die Pockenimpfung aus der Türkei importiert wurde. Aus zunächst
nur lokalen und einzelnen Anwendungen entwickelt sich eine systematische
Praxis. Nach und nach setzen sich Verfahren durch, die von Gesetzen
begleitet werden. Und von Widerstand.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verliert die Anti-Impf-Bewegung an Kraft,
verschwindet aus der Öffentlichkeit und wird zur Privatsache. Doch die
Argumente von damals ähneln den heutigen: Der Impfprozess sei unnatürlich.
Der Schulmedizin könne man nicht trauen, da sie den Menschen nicht als
ganzheitliches Wesen betrachte. Krankheiten gehörten zum Leben und stärkten
die Menschen.
Als gegen mehr und mehr Epidemien Impfstoffe gefunden werden, zeitgleich
die Pharmazie als großer wirtschaftlicher Sektor entsteht, kommt ein neues
Argument dazu: Impfungen seien Tricks, mit denen die Pharmaindustrie
Gewinne auf Kosten der Patient*innen generiert.
Gegen Masern wird 1958 erstmals ein Impfstoff getestet, der in den Jahren
danach immer weiter verfeinert wird. 1971 wird der MMR-Impfstoff
eingeführt, die Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln – drei
Kinderkrankheiten, die weltweit verheerenden Schaden anrichten.
Schon früh gibt es Kritik an der Kombiimpfung, aber die Öffentlichkeit
erreicht sie erst 1998: Eine Forschungsgruppe des britischen Royal Free
Hospitals um Andrew Wakefield stellt eine Studie vor, die eine Verbindung
zwischen einer Darmerkrankung, Masern und Autismus gefunden haben will.
Veröffentlicht wird sie in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet,
die ein hohes Ansehen genießt. Das Thema wird breit diskutiert, vor allem
Eltern fühlen sich in ihren Sorgen verstanden. Nur: Keine der nachfolgenden
Studien kann die Theorie bekräftigen. Trotzdem fallen die Impfraten.
In den 2000ern beginnt der Skandal um Wakefield. Es wird öffentlich, dass
er große Summen Geld entgegengenommen hat, um den in der Studie
festgestellten Zusammenhang zu beweisen; er selbst ist Teilhaber eines
Patents für eine einzelne Masernimpfung – deren Erfolg am Misserfolg der
MMR-Impfung hängt. Dazu kommt, dass Ergebnisse im Vorfeld der Studie, die
Wakefields Theorie entgegenstehen, von ihm schlichtweg ignoriert wurden.
2004 wird nach einer ersten Überprüfung des General Medical Councils die
Studie teilweise widerrufen, 2010 nach einer zweiten vollständig. Wakefield
wird die Approbation als Arzt entzogen.
Allerdings endet seine Geschichte hier nicht. Seit der Veröffentlichung der
Studie ist er zu einer öffentlichen Figur geworden. Er hält Vorträge, gibt
Interviews und widmet sich weiteren Projekten. Für die, die ihm glauben,
ist er zum Märtyrer geworden. Wakefield wurde abgesägt, weil er recht
hatte, so die Logik. Auf Druck von „Big P“, wie die Pharmaindustrie in der
Anti-Impf-Bewegung genannt wird, haben sich Staat und Medien gegen den
Kritiker verschworen, ihn erst systematisch diskreditiert und dann
feierlich exkommuniziert. 2016 dreht Wakefield den Film „Vaxxed“ und geht
mit einer Wiederholung seiner Thesen damit auf Kinotour – auch in
Deutschland.
Die Anti-Impf-Bewegung drängt seit 1998 in ganz Europa wieder in die
Öffentlichkeit, auch wenn sie nicht mehr so groß ist wie in Leicester. Und
noch etwas hat sich geändert: Die historische Bewegung war stark
proletarisch geprägt. Sie wehrte sich gegen Impfkosten und die bei
Nichtbeachtung anfallenden Strafgebühren, die nur die Armen empfindlich
traf und das Gefühl verstärkte, als Arbeitende Bürger*innen zweiter Klasse
zu sein.
## Was fürs Herz, was für den Kopf
Heute hingegen sind es vor allem Akademiker*innen, die aus ihrer Bildung
die Energie ihres Aktivismus ziehen. Der kritische Geist, der ihr Studium
prägte, ist der, mit dem sie jetzt die Institutionen der Gesellschaft
hinterfragen. Die Argumentationsstrategien von Menschen wie Wakefield sind
genau darauf eingestellt: Im wissenschaftlichen Duktus werden die
Grundlagen empirischer Wissenschaften delegitimiert, daneben
Einzelschicksale voller Anreiz für die Tränendrüse ausgeschlachtet. Was
fürs Herz, was für den Kopf.
Diese Aufteilung ist nicht unbedeutend. Sie entspricht ebendiesem
kritischen Geist, dessen Kritik immer auch die an einem entmenschlichten,
viel zu rationalen Wirtschaftssystem ist. Dieser entseelten Gesellschaft
wird eine spirituelle Rückkehr entgegengestellt: Impfskepsis und
Anthroposophie, alternative Heilkunde und Alltagsspiritualität gehen oft
Hand in Hand.
Die Art und Weise, auf die Impfgegner*innen dabei Argumente abblocken oder
relativieren, verweist jedoch auch in eine andere Richtung. Es sind
dieselben Muster, die Diskussionen über Chemtrails und die Hohlerde
begleiten. Und sie ähneln auch denen, mit denen von rechts die „Journaille“
und ihre Informationen delegitimiert werden.
## Verunsicherung ist kein Nebeneffekt
Allerdings sind die wenigsten Eltern, die ihre Kinder nicht impfen, deshalb
gleich militante Impfkritiker*innen. Deren Zahl wird letztlich nur auf ein
bis drei Prozent der Bevölkerung geschätzt. Bei der Mehrzahl handelt es
sich um Impfskeptiker*Innen, und es ist genau diese Skepsis, auf die die
Argumente der überzeugten Aktivist*innen zugeschnitten sind. Für sie ist
Verunsicherung kein Nebeneffekt, sondern eines der Gefühle, über das sie
versuchen, ihre Botschaft zu vermitteln.
Besonders nahrhaften Boden finden sie in Regionen mit hohem Bildungsgrad
und Lebensstandard: Die Gegenden mit den niedrigsten Impfraten sind neben
Wohlstandsenklaven wie Prenzlauer Berg in Berlin der Speckgürtel im Süden
Deutschlands, vor allem das südliche Bayern und Baden-Württemberg.
Einerseits haben viele dort einen Hang zu einem natürlichen Lebensstil, zu
Naturheilkunde und Meditation. Aber auch rein ökonomisch braucht es den
hohen Lebensstandard, denn Heilpraktiker*innen und Homöopath*innen sind
teuer.
Ähnlich teuer wie die Nahrungsergänzungsmittel, die Andrew Wakefield nach
dem Widerrufen der Studie auf dem amerikanischen Markt gegen Autismus
verkaufte – ohne dass deren Wirksamkeit je hätte bestätigt werden können.
10 Mar 2018
## AUTOREN
Arved Clute-Simon
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