# taz.de -- Einwanderungspolitik in den USA: Zwei von elf Millionen | |
> Rund elf Millionen Einwanderer leben ohne Papiere in den USA. Sie | |
> fürchten eine Abschiebung. Die Reaktionen darauf sind sehr | |
> unterschiedlich. | |
Bild: Einsatz in Atlanta: eine Abschiebung wird vorbereitet | |
Union City (New Jersey) taz | Für den Fall, dass die Ausländerpolizei ICE | |
an ihre Wohnungstüre im zweiten Stock des Hinterhauses klopft, um sie und | |
ihren Mann José abzuholen, hat Judith Lopez* einen Wunsch. Sie möchte, dass | |
ihre drei Söhne und deren Freunde zu Trommeln, Gitarren und Flöten greifen. | |
Und dass sie spielend auf die Straße ziehen, um eine schützende Kette zu | |
bilden. | |
Es soll friedlich zugehen und laut. Es soll die Nachbarn informieren, von | |
denen viele in einer ähnlichen Situation sind. Und es soll die Polizisten | |
verunsichern, die in kugelsicheren dunkelblauen Westen und mit Pistolen und | |
Knüppeln kommen, um Familien auseinander zu reißen. | |
Judiths Mann, José Lopez, sitzt neben seiner Frau in der Wohnung in Union | |
City, von wo aus man nur ein paar Blöcke weit nach Osten gehen muss, um die | |
Skyline von Manhattan auf der anderen Seite des Hudson zu sehen. Er hört | |
schweigend zu. Hinter ihm steht die Gitarre, die er in der Kirche und bei | |
Kindergeburtstagen spielt. Erst vor ein paar Stunden hat er seine beiden | |
jüngeren Söhne mit zum Einkaufen genommen, weil er Gerüchte über Razzien | |
gehört hatte und er nicht sicher war, ob es für ihn zu riskant ist, in den | |
Supermarkt zu gehen. „Ich habe das Geld“, sagt der Vater, „aber die beiden | |
haben Papiere.“ | |
Auch den Söhnen steht der Sinn nicht nach Musik. Victor, mit 16 der | |
Jüngste, weiß von Teenagern, deren Eltern schon vor Jahren abgeschoben | |
worden sind. „So etwas ist total unfair“, sagt er, „wir sind eine normale | |
Familie. Ich mache meine Hausaufgaben, ich gehe zum Sport, ich habe | |
Freunde.“ | |
## „Es rückt näher“ | |
Sein Bruder Jesús, 19, hat am Vorabend von einem großen ICE-Einsatz in | |
ihrer Gegend gehört. „Es rückt näher“, sagt er und hofft zugleich, dass … | |
seiner Familie alles „okay“ bleibt. „Ich gerate in Panik, wenn ich daran | |
denke, was aus uns wird, wenn unsere Eltern nicht mehr da sind.“ Marco, der | |
Älteste, der bereits arbeitet, sieht eine riesige Aufgabe auf sich | |
zukommen. „Ich würde die Verantwortung für meine beiden Brüder übernehmen… | |
sagt der 23-Jährige nachdenklich, „aber wenn auch ich abgeschoben werde, | |
wären sie ganz allein.“ | |
Bei den Lopez verlaufen gleich mehrere administrative Trennlinien quer | |
durch die Familie. Alle drei Söhne wohnen noch bei den Eltern, alle fünf | |
essen abends oft zusammen, und die ganze Familie geht sonntags gemeinsam in | |
die Kirche. Aber die Zukunft dieses Miteinander ist gefährdet. Victor und | |
Jesús, die beiden jüngeren Söhne, sind in den USA zur Welt gekommen und | |
daher Staatsangehörige. | |
Marco hingegen war ein Säugling, als seine Eltern ihn 1994 durch die Wüste | |
in die USA trugen, er gilt daher als „Einwanderer“ und hat eine befristete | |
Aufenthaltsgenehmigung. Die 44-jährige Judith Lopez, die täglich ans | |
entgegengesetzte Ende von New York fährt, um dort Wohnungen zu putzen, und | |
ihr gleichaltriger Mann José, der seinen Unterhalt als Metallarbeiter | |
verdient, haben gar keine Papiere. Sie sind „Illegale“ und können jederzeit | |
abgeschoben werden. | |
## Alle haben abgeschoben | |
Alle US-Präsidenten haben Papierlose abgeschoben. Barack Obama ging mit 2,5 | |
Millionen Abschiebungen am weitesten. Doch gleichzeitig bemühte sich der | |
demokratische Präsident um eine umfassende Einwanderungsreform. Als diese | |
am Widerstand der Republikaner scheiterte, verschaffte er einzelnen Gruppen | |
mit Dekreten vorübergehende Erleichterungen. | |
2012 kam Marco, der älteste Sohn der Lopez', in den Genuss einer solchen | |
Duldung, die er alle zwei Jahre verlängern kann. Zuvor hatte er als | |
Teenager zugeschaut, wie seine Klassenkameraden in Union City Führerschein | |
machen durften und sich auf die Universität vorbereiteten. Als „Illegaler“ | |
hatte er keinen Anspruch auf staatliche Stipendien und erhielt nicht einmal | |
ein Studiendarlehen von einer Bank, weil seine Eltern als „Illegale“ keine | |
Kreditkarte besaßen. | |
An die Stelle der Hoffnung auf eine große Reform ist die pauschale Drohung | |
gegen elf Millionen Menschen getreten, die unter ähnlichen Bedingungen | |
leben wie die Lopez. Zwar gelten die befristeten Duldungen für junge | |
Menschen, die wie Marco als Kind in die USA gekommen sind, weiterhin. Und | |
Trump behauptet, dass er diese Regelung nicht abschaffen will. Aber | |
Hunderttausende junge Leute zittern vor ihrem nächsten Verlängerungsantrag. | |
Am Dienstag dieser Woche verschärfte die Regierung zudem die Richtlinien | |
für Abschiebungen. Heimatschutzminister John Kelly wies die Behörden an, | |
all jene Menschen ohne Papiere auszuweisen, die schon mal straffällig und | |
verurteilt worden sind, die eines Verbrechens angeklagt oder auch nur | |
beschuldigt sind oder die öffentliche Sicherheit gefährden. Dies beträfe – | |
laut Kelly – etwa eine Million Menschen. | |
## Das Sanctuary Movement | |
An dem Wochenende, als sich Donald Trump im Weißen Haus in Washington | |
einrichtete, saßen die Lopez in ihrer gelb gestrichenen Küche in Union City | |
und stellten einen Notfallplan auf. Das zentrale Element darin ist der | |
„Kontaktbaum“. Er enthält die Namen und Telefonnummern all jener, die | |
umgehend verständigt werden müssen, falls die Mutter oder der Vater oder | |
beide abgeholt werden. Die Eltern haben die Daten in ein kleines rotes | |
Notizbuch geschrieben, die Söhne haben sie in ihre Handys eingetragen. | |
Der Kontaktbaum ist eine von vielen Vorbereitungen auf die mögliche | |
Katastrophe. Andere Schritte haben Judith und José Lopez schon vor Monaten | |
unternommen. Unter anderem hinterlegten sie eine Vollmacht, die bestimmt, | |
wer das Sorgerecht für ihren minderjährigen Sohn bekommt, damit er nicht in | |
einem Heim landet. Und sie legten fest, was mit ihren Ersparnissen | |
geschieht. | |
Geholfen hat ihnen die Sanctuary Bewegung; ihr haben sich die Lopez schon | |
im August auf Einladung ihres Pastors angeschlossen. Drei Monate vor den | |
Wahlen prognostizierte kein Experte in den USA, dass Donald Trump gewinnen | |
könnte. Aber Papierlose wie Judith und José Lopez spürten, dass sich Böses | |
zusammenbraute. Als Trump bei seinem Wahlkampfauftakt Mexikaner als | |
„Kriminelle“, „Vergewaltiger“ und „bad hombres“ bezeichnete, tobte … | |
innerlich vor Wut. | |
Inzwischen spürt er beim Mittagessen Blicke, die es vor den Wahlen nicht | |
gab. Trump-Gegner sind nun auffallend freundlich zu ihm, während die | |
anderen manchmal Grimassen ziehen. Vor wenigen Tagen, als José in einer | |
Schlange auf die Essensausgabe wartete, drängte sich ein großer weißer Mann | |
von hinten ganz nah an ihn heran und rempelte ihn später an der Kasse | |
erneut wortlos an. „Er hat versucht, mich zu provozieren“, ist José sicher, | |
„aber ich habe geschwiegen. Einfach nichts gesagt.“ | |
## Nie wieder in Mexiko | |
Aus Angst vor Razzien verbarrikadieren sich andere Latinos in ihren | |
Wohnungen. Doch Judith und José haben entschieden, dass sie nicht klein | |
beigeben wollen. Seit ihrer Wüstendurchquerung im Jahr 1994 haben sie jede | |
Konfrontation vermieden. Sie haben Sozialversicherung gezahlt, obwohl ihnen | |
klar war, dass sie nie eine Rente kriegen sollten. Sie haben geschluckt, | |
dass sie weniger Stundenlohn bekommen als gleich qualifizierte | |
US-Staatsangehörige. Und sie haben nie ihre Familie in Atlixco besucht, | |
weil sie anschließend wieder einen Schlepper gebraucht und es vielleicht | |
nie zurück nach Union City geschafft hätten. | |
Über die Jahre haben sie Tausende Dollars ausgegeben, um ihre Situation | |
mithilfe von Anwälten zu legalisieren. Im Sommer 2001 wähnten sie sich fast | |
am Ziel. Damals hatte Josés langjähriger Arbeitgeber, ein Metallunternehmer | |
in Union City, eine Petition eingereicht, um eine Aufenthaltsgenehmigung | |
für seinen Dreher zu bekommen. Der Boss wies nach, dass er keinen | |
einheimischen Fachmann mit Josés‘ Qualifikationen finden konnte. Doch am | |
11. September zerstörte das einstürzende World Trade Center die Hoffnung. | |
Nach den Attentaten kam die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen an | |
Einwanderer zum Stillstand. | |
Dann kam Trump auf die politische Bühne und mit ihm das politische Erwachen | |
von Judith und José Lopez. Bei den Sitzungen der Sanctuary Bewegung, die er | |
„Trainings“ nennt, haben sie ältere Migranten, langjährige Aktivisten und | |
Methoden des gewaltfreien Widerstands kennengelernt, die schon schwarze | |
Bürgerrechtler in den 60er Jahren angewandt haben. | |
## Die Gruppe macht stark | |
Mit schlotternden Knien sind die Lopez zu ihren ersten Demonstrationen in | |
den USA gegangen. „Wenn sie eine Menge Papierlose auf einen Streich kriegen | |
wollen, ist dies der geeignete Moment“, denkt Judith Lopez, als sie Mitte | |
Februar in der Menge vor einer Zweigstelle des „Ministeriums für die | |
Heimatsicherheit“ in New York steht und für ein Bleiberecht demonstriert. | |
Zu dem Zeitpunkt weiß sie längst, dass die Gruppe sie stark macht. | |
„Eigentlich ist es absurd“, sagt José Lopez. „Dank Donald Trump lernen w… | |
unsere Rechte kennen und nutzen.“ | |
Die Sanctuary Bewegung, der neben Kirchen zunehmend Synagogen und Moscheen | |
beitreten, bietet ihre Tempel als Schutzräume für Papierlose an. In Denver | |
lebt bereits eine Mexikanerin, der die Abschiebung drohte, in einer Kirche. | |
Doch Judith Lopez erwägt diese Option keinen Moment lang. | |
Schon in Atlixco war sie die radikalere von beiden. Als ihr Ehemann plante, | |
allein „in den Norden“ zu gehen, um ein paar Jahre zu arbeiten und später | |
mit dem Geld für die Eröffnung einer Metallwerkstatt nach Hause | |
zurückzukommen, sagte sie ihm kategorisch: „Entweder wir gehen zusammen | |
oder ich trenne mich von Dir.“ 23 Jahre später, als José noch unsicher ist, | |
was er im Falle einer drohenden Abschiebung verhalten würde, hat sie | |
bereits entschlossen, notfalls in ein Abschiebegefängnis zu gehen. „Ich | |
will mich nicht mehr verstecken“, sagt sie, „nicht einmal in einer Kirche�… | |
* Name geändert | |
28 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
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