# taz.de -- Qualität im Kindergarten: Die Kita-Raumfrage | |
> Das „Hamburger Raumkonzept“ schafft die Gruppenräume ab und ersetzt sie | |
> durch Funktionsbereiche. In der Kita „Springmäuse“ kann man sehen, wie | |
> das funktioniert. | |
Bild: Der Raum als „dritter Pädagoge“: Atelier der Kita St. Franziskus in … | |
HAMBURG taz | Mittwoch früh, 9 Uhr, gedämpftes Licht im Foyer der Hamburger | |
Kita „Springmäuse“. Für Gäste steht ein Korb mit Filzpantoffeln bereit, … | |
den Teppich zu schonen. In einer beleuchteten Vitrine stehen die neuesten | |
Werke der Kinder. Eine Tasche aus Ton zum Beispiel, verziert mit bunten | |
Glitzersteinen. Inspiriert sei der Eingang von den Reformideen der | |
Reggio-Pädagogik, sagt Leiterin Claudia Fleck. Der Eingang sei „die | |
Visitenkarte einer Kita“. | |
Im Atelier nebenan sind Kinder am werken. Zwei Mädchen an einem Leuchttisch | |
greifen mit Wonne in eine graue Masse, heben sie an und lassen sie wieder | |
runterkleckern. Es ist Sand mit Kleister. Ein kleiner Junge mit Schürze | |
zerkleinert Ton mit einem Spatel. „Er macht Stücke“, erklärt Fleck. „Es | |
geht nicht um das Produzieren von Basteleien, es geht um das Tun.“ | |
## Ein „Ich Buch“ für jedes Kind | |
Das Altelier leitet Erzieherin Zeynep Caliskan. Während sie | |
Nass-in-nass-Malen vorbereitet, kommt ein Junge vom Zeichentisch und zeigt | |
Claudia Fleck sein Bild. Aufgeregt erklärt er, was die Figuren auf seinem | |
Blatt tun. „Das müssen wir aufschreiben“, sagt Fleck. Caliskan lässt die | |
Pinsel stehen, setzt sich mit Kind hin und notiert. | |
Später werden seine Worte mit einem Foto im „Ich-Buch“ abgeheftet. Das sind | |
kleine Ringbücher mit laminierten Seiten, die die Erlebnisse der Kinder | |
dokumentieren. Ein Mädchen sitzt neben der Garderobe und schmökert in ihrem | |
„Ich-Buch“. „Die lieben ihre Bücher“, sagt Fleck. | |
Bis 2011 gab es zwei Gruppenräume, in denen sich alles abspielte. Doch die | |
Erzieherinnen waren damit unzufrieden. „Wir merkten, die Kinder haben sich | |
Nischen gesucht. Manche gingen auf Toilette und kamen nicht wieder“, sagt | |
Fleck. | |
## Türme bauen mit 500 Würfeln | |
Die Kita ließ sich von Diplompädagogin Angelika von der Beek, lange Jahre | |
Fachberaterin für die Hamburger Kindertagesstätten, beraten. Seither | |
arbeiten sie nach von der Beeks „Hamburger Raumgestaltungskonzept“: Es gibt | |
keine Gruppen, die Räume haben Funktionen. Es gibt einen für Bewegung, für | |
Rollenspiele, für Bauen und ein „Kinderrestaurant“. Statt der | |
Gruppenerzieherin gibt es die Fachfrau für den Raum. | |
Dieses Muster findet sich in vielen Kitas. „Die offene Arbeit feiert nach | |
meinem Eindruck einen Siegeszug“, sagt von der Beek später am Telefon. „Es | |
ist die passendere Form, um kindgerechte Pädagogik zu machen.“ Die | |
Nationale Bildungsstudie „Nubbek“ bescheinigt offener Arbeit mit Kindern im | |
Kindergartenalter „höhere Prozessqualität“. | |
Bei den „Springmäusen“ findet man viele spezielle Details des Hamburger | |
Konzepts, über das von der Beek auch Bücher geschrieben hat. Im | |
Kinderrestaurant zum Beispiel die „Eisenbahn-Waggon-Lösung“: Je zwei Bänke | |
teilen sich eine hohe Rückenlehne. Das spart Platz und schützt vor Lärm. | |
Und da die 38 Kinder in zwei Schichten essen, wirkt es an den drei Tischen | |
gemütlich und nicht überfüllt. Im Bauraum sind Körbe mit 500 Würfeln oder | |
Hunderten von Pappbechern, mit denen die Kinder Bauwerke konstruieren. | |
Die Kinder können zwischen den Räumen wechseln. Ein Mädchen, das morgens im | |
rosa Prinzessinnenkleid erschien, ist kurze Zeit später bei einer Bauaktion | |
dabei. Auf Leitern stehend haben ältere Kinder einen Turm bis an die Decke | |
gebaut. Sie tragen Helme, denn es passiert, was passieren kann: Der Turm | |
stürzt um. Der Bereich ist mit Band abgetrennt, an dem gebastelte | |
Durchgang-verboten-Schilder kleben. Verbotsschilder sind gerade Thema. Ein | |
Junge hat eines mit Handy fabriziert. „Das kommt an meine Zimmertür“, sagt | |
er. Seine Eltern würden zu oft telefonieren. | |
## Ideen aus Italien | |
„Die Kinder bringen ihre Themen mit“, sagt Fleck. „Wir lassen Sie hier er… | |
mal ankommen morgens.“ Sie sei froh, dass es nicht mehr den „Morgenkreis“ | |
gibt. „Lesen Sie mal mit 20 Kindern ein Buch. Da sind fünf, die das | |
interessiert. Die anderen langweilen sich, und du musst sagen ‚Bleibt doch | |
sitzen, es ist gleich vorbei‘.“ | |
Die „Springmäuse“ sind Akteure in von der Beeks erstem Film „Kindergarten | |
im Wandel“, der am 10. Februar in Hamburg Premiere hat. Kita-Räume sind ihr | |
Thema, seit sie 1984 die erste Fachberaterin der städtischen Kitas in | |
Hamburg wurde, zuständig für 20.000 Kinder. Sie hörte, dass die Region | |
Reggio Emilia in Italien die schönsten Kitas hat, und fuhr mit 14 | |
Kita-Leiterinnen dorthin. In Reggio sollen sich die Kinder entfalten. Die | |
Pädagogen schätzen und dokumentieren, was die Kinder tun. Und sie schaffen | |
ihnen Möglichkeiten, wobei der Raum selbst zum Pädagogen wird. | |
„Uns ging das Herz auf“, erinnert sich von der Beek. Die Zufriedenheit der | |
Mitarbeiter habe sie erstaunt. Manche Kita-Leiterin hätte in Hamburg am | |
nächsten Tag umgeräumt. Esstische wurden aus den Gruppen geräumt, um Platz | |
zu schaffen. Die Idee des Kinderrestaurants entstand. | |
Doch mit den Jahren seien die Ideen versandet, sagt von der Beek. Heute | |
berät sie für den alternativen Hamburger Wohlfahrtsverband Soal kleinere | |
Kitas. Viele Häuser seien zu groß, sagt von der Beek. Mehr als 100 Kinder | |
solle man nicht unter einem Dach haben. | |
## Mancherorts ein Sparmodell | |
Mancherorts gilt der Ansatz als Sparmodell, zumal es Kinderrestaurants | |
gibt, wo es laut ist und 60 Kinder essen. In Bremen zum Beispiel fehlen | |
Räume, weil die Stadt versäumte, Krippen zu bauen. „Bei uns ist jede | |
kleinste Ecke mit Kindern voll“, berichtet Grit Wetjen, Personalrätin beim | |
Träger Kita Bremen. „Der Eindruck, dass offene Arbeit genutzt wird, um | |
jeden Platz zu nutzen, ist richtig.“ Zurzeit habe eine Gruppe einen Raum | |
mit 2,5 Quadratmeter pro Kind. Frühere Differenzierungsräume zweier Gruppen | |
habe man zusammengelegt und zur Krippe umfunktioniert. Man arbeite | |
„teilgeöffnet“, ergänzt Kita-Personalrat Toren Christians. Sprich: Die | |
Gruppenräume werden Funktionsräume für Bauen oder Rollenspiel. | |
Erschwerend kommt hinzu: Um Plätze für die unter Dreijährigen zu schaffen, | |
entschied der Senat, alle Zweijährigen, die zwischen August und Jahresende | |
drei werden, schon zu den Älteren zu geben. Etwa 800 Plätze wurden so | |
gewonnen. Zwar gab es für diese Kinder mehr Betreuerstunden, „aber das | |
verliert sich“, sagt Christians. „Es fehlen die Räume, um für die Kleinen | |
etwas anzubieten.“ | |
Von der Beek hält nichts von dieser Altersmischung. „Wer in der offenen | |
Arbeit Zwei- bis Sechsjährige betreut, macht etwas falsch.“ Die Kleinen | |
seien überfordert. „Die Kinder kommen nicht zu ihrem Tun. Sie stehen da, | |
mit hängenden Schultern und offenem Mund.“ | |
## Eigenes Raum-Konzept für Krippen | |
Die Pädagogin hat ein eigenes Raumkonzept für Null- bis Dreijährige | |
erstellt. Wichtig sei der Gruppenraum als Basis. Doch sie seien „Forscher | |
in Windeln“, bräuchten anregungsreichen Raum. | |
Die Kita „Springmäuse“ hat auch eine Krippe und dort diese Vorschläge | |
umgesetzt. Im Raum steht ein „Bewegungspodest“ mit verschieden hohen Stufen | |
und zu ertastenden Oberflächen. Es gibt eine Wanne mit Linsen oder Bohnen, | |
in denen die Kleinen ihre Sinne spüren. Und auch für Jüngsten gibt es | |
„Ich-Bücher“. | |
„Die Gruppenfrage diskutieren wir auch kontrovers“, sagt Claudia Fleck. | |
Manche Dreijährigen benötigten noch mehr Anleitung als Ältere. Doch ein | |
Zurück zur Gruppenarbeit gebe es nicht. „Die Kinder sind zufrieden. Und wir | |
sind es auch.“ | |
29 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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