# taz.de -- Buch „Die gute Regierung“: Maschinenkönige | |
> Von der Französischen Revolution bis heute: Der Historiker Pierre | |
> Rosanvallon liefert eine Grundlage, um die Demokratiekrise zu verstehen. | |
Bild: AfD, Trump und Le Pen. Sind es düstere Zeiten für die Gewaltenteilung? | |
„Unsere politischen Systeme könnten als demokratisch bezeichnet werden, | |
doch demokratisch regiert werden wir nicht.“ So steigt der französische | |
Historiker Pierre Rosanvallon in den vierten und letzten Band seiner | |
umfassenden Demokratieanalyse ein. | |
Im Zentrum steht dabei zunächst die Frage, wie sich die Gewaltenteilung | |
seit Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und den USA entwickelt hat und | |
welche Rolle der Exekutive in unterschiedlichen Zeiten zugeschrieben wurde. | |
Das Ziel des französischen Historikers ist keineswegs akademisch, sondern | |
politisch: Rosanvallon will eine Grundlage liefern, um die Rolle | |
gegenwärtiger Regierungen und das damit verbundene Demokratiedefizit | |
fundiert beschreiben zu können. Angesichts des sich rasant ausbreitenden | |
Populismus und der Dringlichkeit, dem politisch entgegenzuwirken, ist das | |
ein wichtiges Anliegen. | |
Nach einem fulminanten Einleitungskapitel zeichnet der Autor, leider | |
manchmal recht langatmig, die sich wiederholenden Pendelbewegungen bei der | |
Rollendefinition demokratischer Regierungen nach. Den führenden Köpfen der | |
Französischen Revolution schwebte eine unpersönliche Herrschaft des Rechts | |
vor: Die für alle gleichen Gesetze sollten bestmöglich fürs Gemeinwohl | |
sorgen. | |
## Vom allgemeinen Wahlrecht zum Antiparlamentarismus | |
Die Regierung war als ausführendes Organ ohne wesentlichen | |
Handlungsspielraum konzipiert – ein „maschineller König“, der die | |
parlamentarischen Entscheidungen umsetzt. Doch eine Kodifizierung stieß im | |
Alltag schnell an Grenzen, und wenig später lag die Macht in der Hand eines | |
einzelnen Mannes, der mit vielen Leuten sprach und dann allein entschied: | |
Napoleon. | |
Mit der Herausbildung von Parteien schlug das Pendel erneut zurück: | |
Wählergruppen orientierten sich nun an ihrem sozialen Status; als | |
Führungspersonal wurden meist relativ schwache Persönlichkeiten ausgewählt, | |
schreibt Rosanvallon. | |
Außerdem wurde in der Zeit zwischen den Weltkriegen wirtschaftliches und | |
technokratisches Denken dominant für Politik und Verwaltungen: Den Erfolg | |
von Regierungen lasen die Wähler in Kennziffern wie Arbeitslosenquoten ab. | |
Ausgerechnet nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts machte sich aber | |
auch ein zynischer Antiparlamentarismus breit. Im Nationalsozialismus | |
sollte das Volk seine eigene Souveränität in der Glorifizierung der | |
Exekutive und der Abkehr vom Repräsentativsystem erleben. | |
## Per Los ausgewählte Bürger | |
Nach der Zeit der Diktatur kehrten Deutschland und Italien jeder | |
Personalisierung von Macht zunächst den Rücken; Parteien und Parlamente | |
dominierten die Politik. In Frankreich dagegen setzte Charles de Gaulle | |
1962 mit einer Volksabstimmung durch, dass die Bevölkerung ihren | |
Präsidenten direkt wählen kann. | |
Seit drei Jahrzehnten breitet sich dieser Trend einer erneuten Fokussierung | |
auf das Führungspersonal in vielen Ländern aus, derweil Parteien zunehmend | |
zu „Hilfstruppen des Exekutivbetriebs“ werden. Ihre Funktion als Vermittler | |
zwischen Gesellschaft und politischen Institutionen haben sie immer stärker | |
eingebüßt. | |
Viele Bürger fühlen sich heute von ihren Regierungen missachtet, belogen | |
und ausgetrickst – und von den Parlamenten nicht mehr repräsentiert. Eine | |
Reaktion darauf ist eine rasant wachsende Zustimmung zu populistischen | |
Parteien wie AfD und PiS in Polen – oder die Wahl des neuen US-Präsidenten | |
Donald Trump. | |
Rosanvallon setzt dem die Perspektive einer „Betätigungsdemokratie“ | |
entgegen, die er nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts als die | |
zweite demokratische Revolution empfiehlt. Er will die Beziehungen zwischen | |
Regierenden und Regierten enthierarchisieren durch Transparenz, | |
Rechenschaftspflichten, Kontrolle und eine ernsthafte Erörterung | |
gesellschaftlicher Fragen auf Augenhöhe. | |
Dafür schlägt er neue Institutionen vor wie einen Rat für den | |
demokratischen Prozess. In Fachkommissionen für solidarisches Zusammenleben | |
oder Bildung sollen neben Experten auch per Los ausgewählte Bürgern sitzen, | |
die Probleme ernsthaft und umfassend analysieren und Lösungsvorschläge | |
erarbeiten. Dieser letzte, besonders spannende Perspektiventeil kommt in | |
dem Buch leider deutlich zu kurz. | |
10 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Annette Jensen | |
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