# taz.de -- Demokratieabbau in der Türkei: Das Parlament schafft sich ab | |
> Die Abgeordneten segnen Verfassungsänderungen mit Dreifünftelmehrheit ab. | |
> Jetzt kann Präsident Erdoğan so richtig durchregieren. | |
Bild: Auf dem Weg in ein autoritäres Präsidialsystem: Staatschef Recep Tayyip… | |
ISTANBUL taz | Die Selbstentmachtung des türkischen Parlaments und damit | |
die Ermächtigung für den Präsidenten schreitet voran. Am Montagmorgen haben | |
die Abgeordneten in Ankara den letzten beiden Artikeln für die neue | |
Präsidialverfassung mit der notwendigen Dreifünftelmehrheit zugestimmt. | |
Damit erhielten alle 18 Artikel mehr als die erforderlichen 330 Stimmen. | |
Die Regierungspartei AKP hat 316 Stimmen, die restlichen Stimmen kamen von | |
der rechtsnationalistischen MHP. Die sozialdemokratische CHP und die | |
kurdisch-linke HDP sind vehement gegen die Verfassungsänderung, konnten sie | |
bislang aber nicht verhindern. | |
Die einzige Hoffnung der Opposition war, dass Abweichler innerhalb der AKP | |
oder MHP den Systemwechsel von der parlamentarischen Demokratie hin zu | |
einem autoritären Präsidialsystem verhindern würden. Doch mit zwei | |
trickreichen Manövern verhinderte die Führung der AKP, dass | |
innerparteiliche Opponenten das wichtigste Projekt Präsident Erdoğans zu | |
Fall brachten. | |
Laut geltender Verfassung muss die Abstimmung über eine Verfassungsänderung | |
geheim sein. Die AKP-Führung zwang jedoch ihre Mitglieder zu einer offenen | |
Abstimmung, indem viele Minister und führende Figuren der Partei offen | |
abstimmten und damit geheim abstimmende Parteimitglieder unter Druck | |
setzten. | |
## Drohung mit Neuwahlen | |
Zusätzlich wurde der Druck auf die Abgeordneten erhöht, indem die | |
Parteichefs von MHP und AKP, Devlet Bahçeli und Binali Yıldırım | |
ankündigten, dass sie, falls die Verfassungsreform im Parlament keine | |
Mehrheit bekäme, das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen würden. Alle | |
Abgeordneten, die im Verdacht standen, womöglich nicht für Erdoğans Reform | |
zu stimmen, wären bei Neuwahlen nicht mehr aufgestellt worden und hätten | |
ihren gut bezahlten Parlamentssitz verloren. | |
Geht die Abstimmung in der ab Mittwoch beginnenden zweiten Lesung | |
erwartungsgemäß glatt durch, dürfte am Samstag die Schlussabstimmung über | |
das gesamte Paket stattfinden. Da die Verfassungsreform im Parlament keine | |
Zweidrittelmehrheit erreichen wird, wird eine Volksabstimmung erforderlich. | |
Die ist für Anfang April vorgesehen. | |
Zu den jetzt verabschiedeten 18 Verfassungsartikeln gehören so harmlose | |
Regelungen wie die Senkung des passiven Wahlrechts von 25 auf 18 Jahre und | |
die Erhöhung der Zahl der Abgeordneten von 550 auf 600. Kern der Reform | |
aber sind die zukünftigen Rechte des Präsidenten, des Parlaments und der | |
Regierung. Außerdem regelt ein Artikel die Wahl der obersten Richter. Das | |
Ziel der Verfassungsreform ist die Abschaffung der Gewaltenteilung und die | |
Konzentration der gesamten Macht beim Präsidenten. | |
Legislative und Exekutive werden de facto zusammengelegt. Zunächst einmal | |
geht die Macht der bislang vom Parlament gewählten Regierung komplett auf | |
den direkt vom Volk gewählten Präsidenten über. Einen Ministerpräsidenten | |
gibt es nicht mehr, das Kabinett wird vom Präsidenten zusammengestellt. | |
## Partei als Machtbasis | |
Misstrauensanträge gegen Kabinettsmitglieder und selbst parlamentarische | |
Anfragen gibt es nicht mehr. Nur über das vom Präsidenten vorgelegte Budget | |
muss das Parlament noch abstimmen. | |
Darüber hinaus kann der Präsident das Parlament jederzeit auflösen. Er | |
selbst erlässt unabhängig vom Parlament Dekrete mit Gesetzeskraft. Er ruft | |
den Notstand aus, erklärt den Krieg und ist Oberbefehlshaber der | |
Streitkräfte. Die Machtbasis des Präsidenten ist nicht mehr das Parlament, | |
sondern seine Partei. | |
Mit der Reform darf der Präsident Parteichef sein – ein wichtiger Punkt für | |
Erdoğan. Die Verfassungsrichter werden künftig zur Hälfte vom Präsidenten | |
und zur Hälfte vom Parlament bestimmt. Da der Präsident aber die Mehrheit | |
im Parlament als Parteichef kontrolliert, ernennt er de facto alle Richter | |
selbst. | |
16 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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