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# taz.de -- Serienkolumne Die Couchreporter: Sexspielzeug und die Bibel
> „Chewing Gum“ handelt von einem sexuellen Coming of Age. Einem
> schwierigen, denn Tracys Familie ist religiös – es fliegen sogar Bibeln.
Bild: „Chewing Gum“-Protagonistin Michaela Coel
Flirtversuche und Dirty Talk: Michaela Coles Sitcom „Chewing Gum“ handelt
von sexuellem Coming of Age, das an Unbeholfenheit scheitert. Tracey
Gordon, 24, gespielt von Cole selbst, spricht in die Kamera und lässt das
Publikum an ihren Versuchen teilhaben, sexy zu sein – ohne zu wissen, was
das eigentlich sein soll. Aufgrund ihrer christlichen Erziehung fand Sex
bisher nur in Traceys Fantasie statt. Das ist nicht peinlich, sondern eher
unpraktisch – ihre beste Freundin Candice hat aber einige Tipps: „Mach
einfach Tinder, dann sparst du dir sogar das Busticket, Bro!“
Traceys arroganter Gebetspartner Ronald will nämlich nicht so richtig. Ihr
Beyoncé-Make-over tut er angewidert als „viel zu Barbie“ ab. Als sie sich
auszieht, schmeißt er eine Bibel nach ihr. Überhaupt scheint er seine
Sammlung an halbnackten Jesus-Postern viel hübscher zu finden als sie. Nur
gut, dass Tracey Connor trifft, der sie anhimmelt und dem sie ordentlich
die Gehörgänge ableckt. Weitere Sextipps kommen von Connors Mutter, die nie
anklopft.
„Chewing Gum“, dessen erste Staffel erst auf dem Comedy-Sender E4 und dann
Ende 2016 auch auf Netflix lief (die zweite startet am Donnerstag wieder
auf E4), ist die britische working-class-Antwort auf Lala-Romantik und
Hochglanz-Sexualität. Die Serie ist so dreckig, ehrlich und dreist, „Sex
and the City“ wirkt im Vergleich wie niedliches Geplänkel hinter
vorgehaltener Hand.
Tracey und ihre Freund_innen wohnen im East Londoner Tower Hamlet Estate,
das Soziologen wohl als Bau für Geringverdiener und Arbeitslose bezeichnen
würden. Sie haben keinen geräuschlosen Sex im Weichzeichner, sondern
versuchen Tupperpartys mit gebrauchtem Sexspielzeug zu veranstalten. Das
Geld ist halt knapp, was soll man machen.
## Unbeirrtes Scheitern kann so schön sein
Tatsächlich durchbricht „Chewing Gum“ noch ganz andere Schranken: Serien
über Schwarze Hauptfiguren, Haushalte jenseits der Mittelschicht und junge
weibliche Sexualität, die sich selbst gehört, all das sieht man zu selten.
Dass Tracey Schwarz ist und Connor weiß, ist nicht per se Thema.
Alltagsrassismus erfährt die gleiche angstfreie Behandlung wie Religion und
Sex. Wie in der Serie sei auch in ihrem Wohnviertel nicht „race“ das
entscheidende Thema gewesen, sondern Klasse, erklärte Cole dem Guardian. In
der Film- und Fernsehwelt sehe dies anders aus, sowohl erzählerisch als
auch produktionstechnisch, also schrieb sie die Geschichten selbst.
Die Serie ist semibiografisch: Als Teenager schloss Cole sich für mehrere
Jahre einer Pentecostal-Gemeide an, gab ihren Missionierungseifer aber auf,
als sie die Guildhall School of Music and Drama besuchte und feststellte,
dass es an ihren schwulen Kollegen nichts zu korrigieren gab. Auch wuchs
Cole selbst im Tower Hamlet Estate auf: Sie inszeniert den Wohnblock
entgegen gängiger Klischees nicht als düsteres Getto, sondern drehte im
Sommer bei Tageslicht.
Auch der Drogendealer des Blocks ist nicht so furchteinflößend, wie Tracey
und Candice ihn sich ausmahlen, sondern serviert Kuchen auf einem
Blümchenservice und tauscht Backrezepte aus. Schließlich versagt Tracey
feierlich bei der Chance auf einen Aufstiegsjob in einer Parfümerie: Sie
kann die überkandidelten Namen nicht aussprechen. Unbeirrtes Scheitern kann
so schön sein.
13 Jan 2017
## AUTOREN
Noemi Molitor
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Religion
Serie
Sexualität
Netflix
Großbritannien
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