# taz.de -- Lügenpressevorwurf gegen die Medien: Vielleicht sind wir noch zu r… | |
> Die Medienbranche dachte, zum Überleben müsse sie den digitalen Wandel | |
> wuppen. Stattdessen muss die Akademiker-Arroganz von Bord. | |
Bild: Akademiker*innen verstehen halt auch nicht alles | |
Ok, lassen sie uns über die Kluft sprechen. Sie ist längst ständiger | |
Begleiter des journalistischen Arbeitsalltags, seit drei, vier Jahren reden | |
die Medienmacher gefühlt über nichts anders. Es ist jene zwischen Sender | |
und Empfänger: Die Absender von Inhalten stellen fest, dass es einem | |
Großteil der potentiellen Empfänger wurscht ist, dass da überhaupt | |
irgendwas gesendet wird. | |
Das war 2016 so. Und in dem Jahr davor und dem davor auch und 2017 wird es | |
wieder so sein. Je näher die Bundestagswahl rückt, desto hysterischer wird | |
der Ton werden. Man wird weiterhin hyperventilierend nach dem Grund für | |
„Die Kluft“ fahnden, sie von allen Seiten zuzuschütten versuchen. | |
Gleich mal vorweg: Sorry, Leute, so schnell geht das nicht. Denn das | |
Problem ist hausgemacht, es ist eng verklebt mit den gewachsenen Strukturen | |
unserer Branche. Das muss sich erst rauswachsen. Perfiderweise ist das | |
systemimmanente Symptom, dass die, die das Problem wahrnehmen, die Ursache | |
gar nicht sehen können. Aber der Reihe nach. | |
Liest man sich durch Analysen und Interviews der vergangenen Jahre, wirkt | |
aus Sicht vieler Chefredakteure, Intendanten, Programmchefs und Redakteure | |
die Chose weniger wie eine Kluft denn wie ein undurchlässiger, aber | |
durchsichtiger Membran, der unsere Wirklichkeit durchtrennt. | |
## Sie glaubten es nicht | |
Man möge an die riesige Kuppel in „Truman Show“ denken oder Marlen | |
Haushofers Roman „Die Wand“: Auf der anderen Seite geht es weiter, aber es | |
gibt keinen Kontakt zu dieser Sphäre. Man kann die Menschen sehen, die dort | |
ihren Dingen nachgehen, aber egal wie laut man ruft, wie hektisch man mit | |
den Armen fuchtelt, sie scheinen es nicht wahrzunehmen. | |
Als folgten sie einer eigenen Weltlogik, abgekoppelt vom | |
Kommunikationsvertrag, auf den sich diesseits der Wand vermeintlich alle | |
einigen können. Die stattdessen von der Existenz der Lügenpresse überzeugt | |
sind, nur von Mainstreammedien und in historischem Wahnwitz von | |
„Gleichschaltung“ sprechen. | |
Egal wie gewissenhaft und kontinuierlich Journalisten Fakten gegen | |
Behauptungen setzen, das Mehrere-Quellen-Prinzip gegen Gerüchtemacherei: | |
Auch 2016 reagierten die gemeinten Empfänger immer gleich, egal ob nach der | |
Silvesternacht in Köln, Bautzen, Clausnitz, Freiburg. Sie glaubten es | |
nicht. Die Muster wiederholen sich, ein Heureka-Moment blieb bislang aus. | |
Die einzige Erkenntnis vieler Medienmacher: Egal wie man’s macht, macht | |
man’s falsch. | |
Als nun nach der US-Wahl Anfang November das große Analysieren begann – die | |
Ursachen des Wahlausgangs, die Rolle der Presse, die Schlussfolgerungen für | |
deutsches Medienmachen – äußerten sich drei deutsche Journalisten von Rang | |
und Namen. Und entblößten damit ungewollt die Crux unserer Branche. | |
## Besuch in der Provinz | |
[1][Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer sagte im Interview mit dem | |
NDR-Medienmagazin „Zapp“]: „Haben auch wir vom Spiegel hin und wieder ein… | |
elitären Blick auf deutsche Wirklichkeit gehabt? Weil wir in Hamburg | |
sitzen, in Berlin sitzen, in deutschen Großstädten, ist uns hin und wieder | |
– ist jetzt ein gemeines Wort – Provinz, Kleinstädte, Sorgen, die es in | |
Deutschland aber auch gibt, aus dem Blick geraten“, man müsse stattdessen | |
„hingehen und drüber schreiben. Wir sind längst dabei“. | |
[2][Stephan Lebert, Zeit-Redakteur, erklärte in einem langen Text, dass | |
Journalisten seiner Wahrnehmung nach seit den Neunzigern Teil der Elite | |
sein wollten statt sie zu kontrollieren]: „Es gibt auch in Deutschland in | |
diesen Tagen eine Diskussion, ob Medien sich öffentlich bekennen sollten, | |
dass sie zu wenig über die Vergessenen, die Verstoßenen in der Gesellschaft | |
berichtet haben, also genau über die Menschen, die jetzt die Demokratien | |
auf den Kopf stellen. Es ist eine wenig hilfreiche Diskussion, weil sie, | |
wie so vieles, in Rechthaberei endet“; besser sei es, „das große Bild zu | |
zeichnen, und natürlich auch dort, wo sich die angeblich Verstoßenen | |
zusammenrotten“. | |
Claus Kleber twitterte in seiner unnachahmlich elliptischen Art: „Bewundere | |
d Jungen, die heute Volos gewinnen. Erasmus, Super-Examen, Edelpraktika. | |
Nah bei de Leut? Nicht so in Mode.“ | |
Entweder es ist Hybris oder Entfremdung oder eine Mischung aus beidem: Es | |
ist als merkten die drei gar nicht, was sie da von sich geben. Dafür | |
schimmert eine Haltung durch, die genau jene Membran dicker werden lässt, | |
gegen die sie so heftig trommeln. | |
## Akademiker mit anderen Akademikern | |
Brinkbäumer will seine Redakteure rausschicken, in die Provinz, damit sie | |
sich die Sorgen der Leute anschauen; Lebert diagnostiziert eine Elitengier | |
(Journalisten lechzen danach „die Elite“ auf die Gästelisten ihrer | |
Geburtstage und Hochzeiten zu setzen? Aha.) und will Sozialreportagen über | |
Orte, an denen „sich die vermeintlich Verstoßenen zusammenrotten“ – meine | |
Güte, da schreibt einer mit sehr viel Abschaum vorm Mund. | |
So sitzen also Akademiker mit anderen Akademikern in Redaktionskonferenzen | |
und überlegen aus ihrer Akademikersicht, wie sie über die Befindlichkeiten | |
Nicht-Akademiker berichten könnten, um sie als Leser zu erreichen (Laut | |
einer Studie der FH Wien hatten 2005 69 Prozent der deutschen Journalisten | |
eine Hochschulausbildung). Lösung: Schicken wir doch einen unserer | |
Akademiker ins Feld, er möge sich mal umschauen unter den ungebildeten | |
Provinzlern, ja, genau, und pack noch ein paar Expertenstimmen dazu. | |
Dieses „Wir steigen mal hinab aus unserem Turm“ ist fatal in seiner | |
Ignoranz. „Die Leute, über deren Intentionen wir uns so sehr den Kopf | |
zerbrachen, waren die ganze Zeit um uns herum“, schrieb [3][Matt Taibbi im | |
Rolling Stone] nach der US-Wahl über „Die Kluft“, „und sie hörten, wie … | |
sie gesprochen wurde wie über irgendein wildes, ungebildetes Biest“. | |
[4][Sie seien „kein Zoo, in dem wir als Journalisten uns mal an einem | |
Sonntagnachmittag umschauen“, brachte es Anne Fromm kürzlich hier in der | |
taz auf den Punkt.] | |
Tja, und dann wundert sich „heute journal“-Moderator Kleber, wo der | |
hochgezüchtete Nachwuchs herkommt. Mag sein, weil er zu einer Generation | |
gehört, für die es keine „Es war einmal“-Geschichten sind, wenn die Rede | |
ist von jenen, die ohne Abitur, Studium, Journalistenschule einen | |
Redakteursjob bekamen oder zumindest eine Volontariatsstelle. Weil er | |
vielleicht nicht realisiert, dass man Eltern mit genug Geld auf dem Konto | |
haben muss, um sich Praktikumsstellen oder einen Journalistenschulenplatz | |
in Städten wie München oder Hamburg leisten zu können. | |
## Die Gesellschaft abbilden | |
Kurz: Die Blase wird weiter gezüchtet. (Und das hier schreibt eine, die | |
selbst im Glashaus sitzt – Vater Ingenieur, Mutter Lehrerin, erste | |
Fremdsprache Latein, Doktortitel, also das volle bildungsbürgerliche | |
Stereotyp.). Das kann einfach nicht funktionieren! | |
Denn die Aufgabe von Journalismus ist, nicht nur in Berichten, Reportagen, | |
Portraits die Diversität der Gesellschaft abzubilden – auch diejenigen, die | |
da recherchieren und texten, müssen all diese Perspektiven abdecken. Sonst | |
bleibt es nur ein Schreiben und Sprechen über X. Die Innenperspektive lässt | |
sich nicht reproduzieren. | |
Es geht dabei um viel mehr als nur diejenigen, die unter „die Abgehängten“ | |
subsumiert werden. Natürlich gibt es längst Initiativen, die etwas gegen | |
die Eintönigkeit setzen, seien es die Weiterbildungsangebote der [5][„Neuen | |
Deutschen Medienmacher“], das Förderprogramm „grenzenlos“ des WDR oder d… | |
[6][taz-Panter-Volontariat], das versucht, jene zu fördern, die den | |
mehrheitlich weißen, männlichen Redaktionen etwas anderes hinzufügen; das | |
American Press Institute hat ein eigenes „Diversity Programme“ und ein | |
Ausbildungszweig der BBC ist so inklusiv, dass der „ideale Kandidat“ | |
Migrationshintergrund oder Behinderung hat. | |
Nun mag man fragen, wieso dieser Aspekt in der Personalentwicklung bislang | |
zu kurz kommt. Ein Grund wird sein, dass die Entscheider in den vergangenen | |
zehn bis 15 Jahren vor allem darauf fokussiert waren, die Sache mit dem | |
digitalen Wandel zu wuppen. | |
## „Diversity Management“ ist mehr als Kür | |
Permanent auf der Suche nach einer Lösung, um den Niedergang von Print | |
irgendwie mit digitalen Produkten aufzufangen. Personalabteilungen | |
bastelten gar virale Recruitung-Videos für den „War for Talent“. Und dabei | |
schienen alle jenseits der Marktforschungskategorie „18-25“ aus dem | |
Blickfeld zu rutschen. Die Zielgruppen, die nun der Meinung sind, „die | |
Medien“ deckten nicht jene Themen ab, in denen sie sich wiederfinden. | |
Zudem gilt „Diversity Management“ oft als bloße Kür. Gerechtigkeit | |
herstellen, tja, wie schwer das allein zwischen Männern und Frauen ist, ist | |
hinlänglich bekannt. Dabei geht es um so viel mehr: Es macht schlicht | |
handwerklich, inhaltlich – und damit letztlich auch wirtschaftlich – Sinn. | |
Die vielfach ausgezeichnete Spiegel-Redakteurin Özlem Gezer, die nicht | |
zuletzt mit ihrem Scoop, dem Interview mit Kunsthändler Cornelius Gurlitt, | |
Schlagzeilen machte, erzählte 2014 in der Branchenzeitschrift Medium | |
Magazin Folgendes über ihre Arbeit: „Ich bin in einem Hochhaus auf dem | |
Hamburger Kiez aufgewachsen. Bei vielen meiner Themen ist das eine Brücke | |
ins Milieu“, die Leute vergäßen, dass sie Journalistin sei. | |
Auch wenn sie, siehe Gurlitt, nicht auf Migrationsthemen abonniert ist, ist | |
ihre Perspektive ein Vorteil: „Stell dir vor, etwas passiert in einer | |
türkischen Großfamilie. Dann kannst du als Chef Reporterin Melanie | |
hinschicken und es kann funktionieren. Du kannst aber auch Özlem | |
hinschicken. Sie klingelt, zieht die Schuhe aus, küsst der Oma die Hand, | |
setzt sich nicht zum Papa, sondern auf die andere Seite. Es wäre dumm, auch | |
vom Spiegel, wenn man meinen Zugang nicht nutzt“, sagte Gezer. „Und wenn | |
türkische Jungs in ihrem Kiez erzählen, was sie nervt, wie sie von | |
Deutschen stigmatisiert werden, dann packe ich auch drei Geschichten aus, | |
weil ich ihr Gefühl kenne.“ | |
## „Diese Verbindung ist abgerissen“ | |
Was so entsteht, ist Vertrauen. Ein Verstandensein, das nicht künstlich | |
herstellbar ist. Da kann der mit „Erasmus, Super-Examen, Edel-Praktika“ | |
ausgerüstete Reporter aus Akademikerhaushalt noch so empathisch | |
recherchieren und großartig schreiben können – sein Blick ist anders, seine | |
Wahrnehmung von Codes auch. Journalismus muss dieses Verstandensein | |
transportieren, damit sich der Kreis der Rezipienten ändert. | |
Ostküstenmedienelite hier, wirtschaftlich und sozial „Abgehängte“ dort: | |
„Diese Verbindung ist abgerissen“, sagte Brinkbäumer, aber das sei „kein | |
Medienproblem“. Doch, das ist es. Es wird höchste Zeit, dass Redaktionen | |
ihre Stellen vielfältiger besetzen. Bis das wirkt und die Kommunikation | |
durch die gläserne Wand wieder funktioniert, dauert es mindestens eine | |
Ausbildungsgeneration. Zu blöd: Vor der Bundestagswahl wird das also nichts | |
mehr. | |
30 Dec 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Spiegel-Chefredakteur-Brinkbaeum… | |
[2] http://www.zeit.de/2016/51/journalismus-kritik-establishment-medien-macht | |
[3] http://www.rollingstone.com/contributor/matt-taibbi | |
[4] /!5365350/ | |
[5] http://www.neuemedienmacher.de/ | |
[6] /!p4547/ | |
## AUTOREN | |
Anne Haeming | |
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