# taz.de -- Die „School of Life“ in Berlin: Gebrauchsanweisung fürs Leben | |
> Der Philosoph Alain de Botton hat sie gegründet: die School of Life. Ein | |
> erfolgreiches Geschäftsmodell, das nun Deutschland erreicht. | |
Bild: Traue ich mich? Kenne ich mich? Die School of Life inszeniert Sinnsuche a… | |
BERLIN taz | Die ganze Wucht des Lebens steckt in einem Rucksack, den sich | |
die Frau mit den grauen Locken und goldenen Schuhen aufschnallt, dann | |
krümmt sie sich, als wöge er schwer. „Traue ich mich hineinzuschauen, was | |
mein Gepäck ist?“, fragt sie. Sie traut sich, sie ist ja auch Lehrerin, | |
eine Lehrerin des Lebens gewissermaßen, denn sie unterrichtet an der Schule | |
des Lebens, und nun sollen sich auch die Schüler trauen und gegenseitig die | |
Inhalte ihrer Taschen zeigen und fragen: „Stecken in euren Taschen eure | |
Lebensthemen drin?“ | |
Fünfzehn Frauen und vier Männer sitzen mit Gläsern voll Wein und Minzwasser | |
auf Holzstühlen, sie sind gekommen, um zu lernen, wie sie besser über sich | |
selbst schreiben können, autobiografisch, und jetzt packen sie aus. Bücher, | |
Kosmetiktaschen, sie blättern in Notizblöcken und fischen Sammlungen alter | |
Kassenzettel aus ihren Portemonnaies. | |
„Ich könnte mir jeden Tag eine neue Handtasche kaufen, es gibt so tolle | |
Teile“, ruft eine Dame mit grauem Haar und Pagenschnitt. Eine junge Frau in | |
mutig gemusterter Bluse meldet sich, um zu sagen: „Ich wollte meine | |
Erkenntnisse erst gar nicht teilen, weil ich dachte, wie banal!“ „Toll, | |
dass du das sagst“, antwortet die Dozentin. | |
Das Besondere an dieser Schule des Lebens ist, dass sie einen Anfang und | |
ein Ende hat. Anfang: ein Donnerstag im Dezember, 18.40 Uhr. Ende: drei | |
Stunden später. Sie hat einen Ort, drei Räume im Prenzlauer Berg in Berlin, | |
einen für den Unterricht, einen für das Büro und einen, in dem alles | |
verkauft wird, was sich zum Thema verkaufen lässt. Bücher. Taschenanhänger, | |
auf denen „Emotionales Gepäck“ steht. Oder Karten mit Denkanregungen, sich | |
über kleine Dinge zu freuen, hübsche Steinmauern beispielsweise. Drapiert | |
neben Kaffeetassen oder Retrokameras macht sich das gut auf Instagram, | |
Hashtag: #knowledgeispower. Oder: #Livinginthemoment. | |
## International aktiv | |
Und weil die Schule des Lebens Teil eines internationalen | |
Unternehmensnetzwerkes ist, heißt sie School of Life. Ganz unbescheiden. | |
Die erste wurde 2008 in London eröffnet, von Alain de Botton, einem | |
britischschweizerischen Philosophen, der erst Ratgeber um Ratgeber schrieb | |
und weltweit auf Bühnen darüber sprach, wie Beziehungen funktionieren oder | |
die Suche nach dem perfekten Job. Er hat Antworten auf Fragen, die andere | |
ihr Leben lang suchen, sogar auf diese hier: Warum lernt man darüber nichts | |
in der Schule? Seine Antwort: Er gründet eine Schule. | |
De Botton gibt Seminare in Unternehmen, darunter Riesen wie Google. Dazu | |
gibt es einen passenden YouTube-Kanal, dessen Videos 130 Millionen Mal | |
angeschaut wurden. Am beliebtesten: „Karl Marx“. Dicht gefolgt von „Warum | |
Jungs gemein zu Mädchen sind, die sie mögen“. Inzwischen gibt es elf | |
Lizenznehmer, die Zweigstellen der Schule betreiben, von Tel Aviv über São | |
Paulo bis Melbourne. | |
Generationen haben ihre Abende in neonbeleuchteten Volkshochschulräumen | |
verbracht, um Schwedisch zu lernen oder Ausdruckstanz. Alain de Botton | |
setzt sie in harmonisch ausgeleuchtete Räume und lässt Dozenten über | |
Selbstentfaltung reden. Er hat in London einen Ort erschaffen, der ein | |
Versprechen ist: Zahle ich Eintritt, sagt mir jemand, wie das geht mit dem | |
guten Leben. Auch Thomas Biller hält das für eine gute Geschäftsidee. | |
Deshalb hat er Anfang 2016 die Zweigstelle in Berlin eröffnet. Die Kurse, | |
die Einrichtung, alles entspricht den Vorgaben des Londoner Originals. | |
Auszug aus seinem Kursangebot: | |
Entdecke und verwirkliche Dein Potential! | |
Wir sind, was wir essen. | |
Special Event: Liebe, Macht und Leidenschaft. | |
How to find a job you love. Auf Englisch. | |
Wo abends die Teilnehmenden sitzen, hat Thomas Biller heute einen Tisch | |
aufgestellt, in die Ecke des leeren Raums. Er serviert Kaffee und trinkt | |
Wasser. Graue Haare, grauer Pulli, kleine Gesten, den Blick häufig auf den | |
Tisch vor sich gerichtet. Sein Lieblingskurs: Wie die Liebe lebendig | |
bleibt. | |
## „Streite nicht“ | |
„Wir behandeln niemanden so schlecht wie unseren Partner“, sagt Thomas | |
Biller. Knapper Satz, steile These. Dann die Lösung, die, | |
selbstverständlich, von Alain de Botton stammt: „Behandele deinen Partner | |
wie ein Kind. Mach ihm keine Vorwürfe, streite nicht, sondern frag nach, | |
was wirklich das Problem ist.“ Sätze wie von einer Spruchpostkarte. | |
Biller denkt aber nicht an Nippes, wenn er solche Sätze sagt, sondern an | |
die alten Griechen, Literatur und Philosophie und daran, dass zu allen | |
Themen irgendwo schon etwas Schlaues steht. Warum reicht es dann nicht, | |
vorhandene Ideen zu nutzen, Bücher zu lesen, warum musste Biller | |
stattdessen eine ganze Schule eröffnen? | |
Thomas Biller ist in etwa das, was manche Mitarbeiter im Arbeitsamt sind: | |
so erfolglos bei der Jobsuche, dass ihre Vermittler ihnen schließlich eine | |
Stelle im Amt selbst anbieten. Biller ist mit seiner Ehe gescheitert; | |
seinen ersten Beruf, Produzent von Sketchsendungen, hat er aufgegeben, dann | |
etwas Neues gesucht, Koch gelernt und Pâtissier, was wieder nicht das | |
Richtige war. Einen Wohlstandsgeplagten könnte man ihn auch nennen: Er muss | |
sich nicht um das Essen von morgen sorgen, nicht um seine Sicherheit oder | |
soziale Einbindung, er ist in der Bedürfnispyramide eines Menschen ganz | |
oben angekommen, dort, wo Freiheit Verwirrung stiftet und Menschen sich | |
fragen: Wie will ich leben? Und: Muss Leben so sein? | |
## Luxussorgen oder Sinnfragen? | |
Thomas Biller ist der Prototyp eines Schülers der School of Life. | |
Luxussorgen, sagen die einen, Sinnfragen, aus denen Neues entsteht, die | |
anderen. Reale Probleme, sagen die Teilnehmer in der Pause, als sie ihre | |
Weingläser auffüllen und Käseschnittchen kauen. Dort klingen ihre Sorgen | |
ganz unintellektuell, und zwar so: | |
„Ich schlafe nachts schlecht und versuche, mir meine Sorgen aus dem Kopf zu | |
schreiben“, sagt eine Teilnehmerin. | |
„Ich sollte eine Kurzbiografie über meine berufliche Laufbahn schreiben“, | |
erzählt eine andere, „da fiel mir nichts ein. Ich hab gar keine Verbindung | |
zu mir selbst!“ | |
„Ich will lernen, positiver auf mein Leben zu blicken“, sagt eine Dritte, | |
„wenn Freunde von gemeinsamen Erlebnissen erzählen, klingt das immer viel | |
toller, und ich denke: Ach, da warst du dabei?“ | |
Eine Übung. Sätze aufschreiben, die mit „Ich erinnere mich an“ beginnen. | |
Einfach so, raus damit, gegen den inneren Zensor. Schnell, erklärt die | |
Dozentin. Eine Teilnehmerin, die in ihrem Rucksack einen E-Book-Reader mit | |
sich trägt und gleich mehrere Bücher, notiert: „Ich erinnere mich, dass | |
mein Bett ruft. Dass ich das Blatt vollschreibe. Wie ich hier sitze und wie | |
ein Pawlow’scher Hund auf den Gong warte.“ | |
## Einfach mal machen | |
Dann schlägt die Dozentin mit einem Hölzchen gegen eine Messingschüssel, | |
und es macht gong. Die Zeit ist vorbei. Was steht auf den anderen Zetteln? | |
Erinnerungen an Birnbäume in der Kindheit. Nachttöpfe unter dem Bett. Des | |
Vaters Besuch in der ersten WG. Nach dem Kurs sagt die Teilnehmerin mit den | |
Büchern im Rucksack: „Ich nehme mit, Ideen rauszulassen. Einfach zu | |
machen.“ Sie war zum ersten Mal in der School of Life. Welchen Kurs sie | |
sich außerdem wünschen würde? „Warum haben die eigentlich nichts zum | |
Sterben?“ | |
Und so geht es in diesen Kursen nicht um intellektuelle Impulse. Auch nicht | |
um handwerkliche Anleitungen, sie sind schon gar keine Auseinandersetzung | |
mit Philosophie, Literatur und Kunst. Hier wird nicht die Welt verändert, | |
keine Gesellschaft revolutioniert. Hier werden Postkartensprüche zum | |
Unterrichtsfach, und das funktioniert ähnlich wie ein Horoskop: Ist es | |
allgemein genug gehalten, kann sich jeder darin wiederfinden. Die School of | |
Life inszeniert Sinnsuche zum Lifestyle. Oder wie Thomas Biller sagt: „Ist | |
doch besser als ‚Tatort‘ gucken.“ | |
Dafür lädt sie auch schon mal das It-Girl Katie Price ein. Biller möchte | |
mit der Berliner Medien- und Künstlerboheme kooperieren, in Zürich ist der | |
zwölfte Standort in Planung. Das Konzept „School of life“ funktioniert, | |
weil viele nicht wissen, was sie mit den Widersprüchen der Welt anfangen | |
sollen. Hier kaufen sie sich für ein paar Stunden das Gefühl, an ihrer | |
Überforderung, ihrer Sättigung, ihrem Gelähmtsein zu arbeiten. An sich | |
selbst. | |
Die Schülerin, die ihren Beruf noch finden will, möchte ihren Satz noch | |
vorlesen. „Ich erinnere mich, wie ich als Kind meinen Kleiderschrank | |
umarmte und so tat, als sei das Papa.“ Für einen Moment schweigen alle. | |
„Aha“, sagt die Dozentin und nochmal „Aha“. Dann sagt sie, | |
autobiografisches Schreiben sei ja auch so etwas wie ein Geburtsvorgang und | |
dass sich die Teilnehmer nun selber gebären müssten. „Wenn ihr Lust habt“, | |
sagt sie, „gebärt euch ohne jede Scham.“ | |
Dann wünscht sie allen ein wunderbares Leben, und die Gebärenden kreuzen | |
auf ihren Feedback-Zetteln an, dass ihnen der Kurs sehr gut gefallen hat. | |
4 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Christina Schmidt | |
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