# taz.de -- Philosoph über die Liebe: „Niemand kann alles sein“ | |
> Kann man die Liebe halten? Schwierig, sagt der Philosoph Alain de Botton. | |
> Nur, wenn wir uns von den üblichen Plattitüden befreien. Ein Gespräch. | |
Bild: Für immer? Enttäuschungen in der Liebe besser einplanen, sagt der Philo… | |
sonntaz: Herr de Botton, einige Ihrer Kollegen hier in Deutschland | |
schreiben, die Liebe sei am Ende. Glauben Sie das auch? | |
Alain de Botton: Natürlich nicht. Liebe ist nichts, das wir einfach so | |
ablegen können wie das iPad vom letzten Jahr. Wir sind darauf gepolt, Liebe | |
nötig zu haben. Als Kleinkinder haben wir Liebe zum Überleben gebraucht und | |
als Erwachsene brauchen wir sie weiterhin. Sigmund Freud, einer der größten | |
deutschsprachigen Psychologen und Schriftsteller, hat das bestens | |
verstanden. | |
So sehr wir die Liebe brauchen, so oft scheitern wir aber auch daran, sie | |
in Beziehungen zu bewahren. Müssen wir sie neu erfinden? | |
Sie verwechseln die Überlegung, dass Liebe schwierig ist, mit der | |
Überlegung, sie abschaffen zu müssen, als wäre sie irgendeine | |
problembehaftete Situation. Aber wie der Tod ist sie einfach Teil des | |
Menschen. Wir können sie also nicht aufgeben. Wir müssen lernen, mit ihr | |
klarzukommen. Und was wir wirklich lernen müssen, ist, wie man liebt. | |
Wissen wir das nicht längst? | |
Wir denken, wir seien fähig zu lieben, ohne je gelernt zu haben, wie das | |
geht. Genauso wenig, wie wir von uns erwarten, aus reiner Intuition zu | |
wissen, wie man ein Flugzeug landet oder eine chirurgische Operation | |
durchführt, sollten wir aber erwarten, zu wissen, wie man miteinander lebt. | |
Warum denken wir, wir könnten das einfach: lieben? | |
Unsere Unlust, zu üben, wie man liebt, könnte an unserer ersten Erfahrung | |
mit Gefühlen liegen. | |
Nämlich welcher? | |
Stellen wir uns vor, wir sind vier Monate alt, in einem Hochstuhl, | |
sabbernd, wir hämmern mit dem Löffel auf dem Küchentisch und unsere Mutter | |
streichelt uns den Kopf. Sie ist dabei natürlich nur höflich. Sie stellt | |
sich nett, um uns durchs Leben zu bringen. Die Grimassen mit unseren | |
Spuckbläschen sind gar nicht so lustig. Sie muss noch einen Berg Wäsche | |
waschen. Sie hat einen Mann, viele Freunde, viele Interessen. Sie will ihr | |
Buch fertiglesen. Sie will um die Ecke einen Kaffee bestellen und ein | |
Nusscroissant. Ein-, zweimal, zutiefst erschöpft von uns, ist sie sogar | |
hoch in ihr Schlafzimmer, um sich und ihrem verheulten Kissen zu gestehen, | |
dass wir ihr Leben ruiniert haben. | |
Das heißt? | |
Wir wurden von Menschen geliebt, die all die Arbeit, die sie damit hatten, | |
uns zu lieben, versteckt haben. Von Menschen, die ihre Ängste und | |
Bedürfnisse nicht gezeigt haben und in gewissem Sinn besser darin waren, | |
Eltern zu sein, als Liebende. Sie haben - mit guten Absichten natürlich - | |
eine Illusion und ihre komplizierten Folgen geschaffen: Uns nicht | |
vorbereitet auf die ganze Mühe, die jede gute erwachsene Beziehung kostet. | |
Wie liebt man denn richtig? | |
Erwachsene Liebe sollte sich nicht daran erinnern, wie es für uns als Kind | |
war, geliebt zu werden. Sie sollte sich vorstellen, wie es für unsere | |
Eltern war, uns zu lieben. | |
Glauben Sie, Seitensprünge sind natürlich? | |
Die Gesellschaft empfiehlt, mit unkontrollierter Rage und Wutausbrüchen auf | |
einen Partner zu reagieren, besitzt der die Kühnheit, sich vorzustellen - | |
nicht davon zu reden, es sogar in die Tat umzusetzen -, dass es interessant | |
sein könnte, jemanden - an die Wand eines Hotels, Büros oder fahrenden | |
Zuges gedrückt - zu küssen und dabei die Hand in einen fremden Rock oder | |
eine fremde Hose zu schieben. Ein Ehepartner, der in Zorn gerät, weil er | |
betrogen wurde, verschließt die Augen vor einer fundamentalen, tragischen | |
Wahrheit: Niemand kann für einen anderen alles sein. | |
Wenn einer allein es nicht kann: Wäre es dann nicht ehrlicher, mit mehreren | |
Partnern zu leben - oder in einer offenen Beziehung? | |
Frustration lässt immer wieder den Wunsch nach einer utopischen Lösung | |
aufkeimen. Vielleicht, so denken wir, klappt es ja mit einer offenen Ehe? | |
Oder mit einer Strategie der Geheimhaltung. Oder damit, dass wir die | |
Abmachung mit unserem Partner jedes Jahr neu aushandeln. Oder mehr | |
Kinderbetreuung. | |
Solche Ansätze sind also utopisch? | |
Allen diesen Strategien ist das Scheitern vorherbestimmt, und zwar aus dem | |
einfachen Grund, dass sie alle von Anfang an von den Beteiligten verlangen, | |
Abstriche zu machen. | |
Welche denn? | |
Wenn wir ständig Affären haben, setzen wir die Liebe unseres Partners und | |
die psychische Gesundheit unserer Kinder aufs Spiel. Wenn wir auf Affären | |
verzichten, werden wir fade und versäumen das Aufregende neuer Beziehungen. | |
Wenn wir heimlich eine Affäre haben, wird uns das innerlich zerfressen und | |
unsere Fähigkeit, Liebe zu empfangen, verkümmern lassen. Wenn wir zugeben, | |
untreu gewesen zu sein, wird unser Partner in Panik geraten und nie über | |
unsere sexuellen Abenteuer hinwegkommen, auch wenn sie uns gar nichts | |
bedeutet haben. Wenn wir unsere ganze Kraft auf unsere Kinder | |
konzentrieren, verlassen sie uns schließlich doch, um ihr eigenes Leben zu | |
führen, und wir bleiben unglücklich und einsam zurück. | |
Das klingt wie ein Plädoyer gegen Ehen und Beziehungen. | |
Die Ehe ähnelt in gewisser Weise einem Bettlaken, das wir niemals ganz | |
glatt bekommen: Wenn wir an der einen Seite ziehen oder es glatt streichen, | |
kann es passieren, dass wir an der anderen nur neue Falten und Unordnung | |
produzieren. | |
Wer keine Falten will, heiratet besser nicht? | |
Es gibt keine Lösung für die Spannungen, die in einer Ehe auftreten, falls | |
wir mit "Lösung" eine Regelung meinen, bei der keiner Einbußen hinnehmen | |
muss und bei der wir alles Positive, das uns am Herzen liegt, und alles | |
andere gleichzeitig haben können, ohne dass eins davon Schaden verursacht | |
oder Schaden nimmt. Welche Versprechen sollten wir also mit unserem Partner | |
tauschen, wenn wir eine echte Chance auf gegenseitige Treue haben wollen? | |
Gute Frage. Was schlagen Sie vor? | |
Wesentlich mehr Vorsicht und Skepsis anstelle der üblichen Plattitüden wäre | |
wohl angebracht. Man könnte zum Beispiel sagen: Ich verspreche, von dir und | |
nur von dir enttäuscht zu sein. Ich verspreche, meinen ganzen Kummer bei | |
dir abzuladen, anstatt ihn durch ständige Affären und ein Leben als Don | |
Juan auf viele Stellen zu verteilen. Ich habe die verschiedenen | |
Möglichkeiten, unglücklich zu werden, genau geprüft - und mich dafür | |
entschieden, es mit dir zu versuchen. | |
20 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
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